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Kapitel 9 Trennung Ich packe meinen Koffer
GABRIEL: Aus einem Streit kann eine Trennung
werden, ein Abschied auf Zeit oder für immer. Geht
so etwas Knall auf Fall oder steht die Intensität
der Trennung in einem Verhältnis zu der des
Anfangs, als man zueinander fand? Je intensiver
der Anfang, desto spektakulärer das Ende? Wie
sieht die große Revolte aus?
ARTHUR: Das Thema Trennung ist wahrscheinlich
genauso kompliziert wie das der Liebe. Beide haben
unzählige Erscheinungsformen.
SALOME: In der Trennung wird einer bestimmten Form
der Liebe ein Ende gesetzt. Trennung impliziert
eine Veränderung des Verhältnisses zum anderen,
zum Umgang mit ihm, und zwar keine kleine, sanfte
und kaum merkliche Veränderung innerhalb des
Systems Ich-Du, sondern einen radikalen Bruch.
REBECCA: Trennung markiert einen
Paradigmenwechsel. Sie setzt die eingespielten
Verhaltensweisen, das standardisierte
Liebesgebaren außer Kraft, sie stellt alles, was
gewesen ist, in Frage.
AARON: Wirklich? Die Trennung setzt dem Gewesenen
ein Ende, aber sie zerstört nicht seine Bedeutung.
Trennung ist der Einbruch der Geschichtlichkeit in
die Liebe.
CHARLOTTE: Ist Trennung wirklich immer das Ende,
kann sie nicht zugleich auch Neubeginn sein,
sozusagen systemimmanente Umwertung?
JAN: Oft genug ist Trennung nicht Bilanzierung,
deren Wert wir unter dem Strich erkennen, sondern
sie ist so blind und wahnhaft wie das Verliebtsein
selbst.
LUCIA: Für den Übergang vom Streit zur Trennung
gibt es in unserer Liebe ein typisches, fast
standardisiertes Bild: Es gibt den Koffer auf dem
Schrank, ich ziehe ihn mit Karacho aufs Bett
und...
REBECCA: Und er sagt: "Jetzt bist du wieder
kindisch. Wenn du dieses Mal gehst, dann bleib'
auch weg. Aber du kommst ja doch wieder."
JAN: Exakt. Das ist die Situation. Mittlerweile
ausgereizt, fast zum Abgewöhnen.
LUCIA: Ja, schon, aber ich kann nicht für das
Ausbleiben von Wiederholungen garantieren.
HECTOR: Wiederholungen haben doch einen
ästhetischen Reiz.
SALOME: Oder sind Zeichen dafür, daß man mit etwas
nicht fertiggeworden ist, keinen anderen Ausdruck
findet für das Gefühl: Ich kann nicht mehr, ich
will nicht mehr. Etwas darin bleibt unbegriffen,
unabgeschlossen.
LUCIA: Vielleicht. Ich werde mit dem anderen nie
fertig werden, weil ich es gar nicht will. Und
deshalb scheue ich auch nicht zurück vor dem
Klischee des inszenierten Kofferpackens. Es ist
doch unwesentlich, was das bedeuten soll oder
bedeuten könnte, wo und wann die Reise mit meinem
Koffer endet. Das Packen wird im übrigen immer
schwieriger, je länger man ein geschlossenes,
gemeinsames Leben hat. Immer mehr Zeug, immer mehr
Verflechtungen und immer schwieriger die Antwort
auf die Frage: Was brauche ich denn alles?
JAN: Wir haben das Spiel öfter gespielt, Trennung,
Versöhnung, Trennung, Versöhnung, kurze oder
längere Ruhepausen dazwischen – und die Drohung,
die Lucia bekundet hat, ist nie verwirklicht
worden.
LUCIA: Aber irgendwann komme ich eventuell doch
nicht wieder, obwohl ich bisher immer
zurückgekehrt bin. Warum warst du dir dessen so
sicher?
JAN: Weil ich das Spiel kenne. Dein Gebaren ist
unglaubwürdig.
LUCIA: Was ist daran unglaubwürdig? Nur, weil du
den Ausgang schon kennst. Du glaubst nur, ihn zu
kennen. Eines Tages könnte es auch anders kommen.
Mein Verhalten ist im Augenblick der Entscheidung
ganz ernst gemeint: Jetzt packe ich, jetzt
reicht's, ich habe die Schnauze voll.
ARTHUR: Jan, hast du nie die Schnauze voll?
JAN: Na klar, aber deswegen ziehe ich nicht gleich
aus.
SALOME: Das ist dir wohl zu unbequem?
JAN: Ja und nein. Manche Dinge sollte man nicht
überstürzen. Schon gar nicht nachts. Wir streiten
uns fast immer nachts, und danach braucht mein
Körper erst mal Ruhe. Mein Fluchtort ist mein
Bett, nicht die Straße.
LUCIA: Wieso dein Bett? Einmal hatte ich wirklich
drei Taschen dabei, das war zu einer Zeit, als ich
auch Bücher brauchte. Ich hatte schwer zu
schleppen, bin durchs Dorf gelaufen mit dem
Gedanken: Warum muß ich mir's eigentlich so schwer
machen, soll er doch gehen! Ich hatte das Bild von
mir als streunender Katze langsam leid.
JAN: Das sagte ich ja schon: Wir kennen diese
Spielchen. Du gehst aufgebracht, ich bleibe. Ist
das Trennung?
GABRIEL: Verhaltene Ruhigstellung versus
überstürzte Aktion?
AARON: Worin liegt der Unterschied? Der eine
bleibt und trennt sich doch, langsam und leise.
Der andere geht mit einer dramatischen Szene und
geht doch vielleicht nur äußerlich.
LUCIA: Genau. Solche Ausbrüche sind nur Signale,
keine wirkliche Trennung. Ich kann mich nicht wie
er in der gemeinsamen Wohnung isolieren, muß mich
äußerlich auf Distanz begeben, um mich mit dem
Gedanken vertraut zu machen, daß ich mich auch
innerlich lossagen muß. Ich muß in der
Inszenierung erst die Situation schaffen, in der
ich wieder alleine bin und fähig zur Trennung. Im
gemeinsamen Leben gibt es für mich keinen Raum,
mich abzugrenzen, mich zu bewahren. Nicht, weil
die Wohnung zu klein oder ich dazu unfähig wäre,
sondern weil ich es prinzipiell nicht will.
JUDITH: Und die äußere Trennung ist keine
Illusion?
LUCIA: Doch, natürlich. Insofern hat Jan recht.
Ich inszeniere, und im Theater wird nie das
wirkliche Leben gespielt. Ich stehe dann mit
meinem Koffer an der nächsten Straßenecke, heule,
bin unendlich einsam und weiß nicht mehr, weswegen
wir uns gestritten haben. Ich will sofort zurück,
nach fünf Minuten schon, weil ich das Leben ohne
den bestimmten anderen – meinen Mann – doof finde,
und weil ich keine schöne Vorstellung von einem
Leben ohne ihn entwickeln kann.
ARTHUR: Ist das Phantasielosigkeit? Nach einer
Trennung tauchen doch erst wieder all jene
Wünsche, Hoffnungen, Utopien von verdrängten
Lebensentwürfen auf, die in der notwendig
begrenzten Liebesbeziehung keinen Raum haben
konnten.
CHARLOTTE: Die Phantasien eines anderen Lebens
ohne den Geliebten sind doch ständig präsent, aber
sie sind irgendwie schal, erfunden, nur reizvoll
in der Beziehung zu ihm...
LUCIA: ...und müssen deshalb Phantasien bleiben.
Das hat viel mit Sehnsucht zu tun. Wir Menschen
sind nun einmal Sehnsuchtstiere, und um den
anderen immer wieder zum Fluchtpunkt meines
Sehnens machen zu können, muß ich ab und an gehen.
JUDITH: Sehnst du dich nie nach einem anderen
Leben mit einem anderen Mann? Könnte nicht diese
Sehnsucht nach dem anderen ganz konkret werden,
wenn du einem neuen Mann begegnest, dich verliebst
und dich deswegen von dem vormaligen trennst?
LUCIA: Vielleicht, aber das wäre eine ziemlich
kontingente Wendung der Dinge. Die grundsätzliche
Wechselbeziehung zwischen Liebe und Trennung wäre
in diesem Fall nicht erkannt, sondern nur
verschoben in eine neue Liebesbeziehung.
GABRIEL: Mit anderen Worten: man muß sich immer
wieder trennen, um sich auch lieben zu können.
CHARLOTTE: In gewisser Weise ja. Trennung bedeutet
schließlich auch die Freistellung des anderen von
den eigenen Erwartungen.
AARON: Und die Befreiung der Beziehung von den
eingeschliffenen Zwangshandlungen. Alles ist nach
der Trennung wieder offen, auch die Beziehung auf
den Verlassenen hin.
SALOME: Du kannst den anderen dann wieder neu
wahrnehmen, dein Bild von ihm korrigieren und dich
in einen neuen Menschen verlieben, auch wenn es
sich noch um dieselbe Person handelt.
GABRIEL: Die Liebe verwandelt den anderen in ein
mysteriöses Wesen, das man nicht besitzen kann und
von dem man getrennt bleibt. Vielleicht ist gerade
das die Liebe: Sich in einem gleichen Raum
aufzuhalten, sich in der Nähe des Geliebten zu
befinden, der sich seinerseits seinen Dingen
widmet und zuläßt, daß die Trennung in die Liebe
integriert wird statt zu ihrer Auflösung zu
führen, wenn die erzählerische Ordnung der Passion
umgestoßen wird.
JUDITH: Das kommt darauf an, ob einer sich von dem
trennen will, was ihn am Geliebten objektiv stört,
oder ob man sich selbst nur von einem falschen
Bild des anderen trennt.
ARTHUR: Ich kann das gar nicht voneinander
trennen. Ich löse mich von einem bestimmten Bild,
das ich von meiner Geliebten habe nur, als ich
mich auch von meinem eigenen Zwang trenne, die
andere als diese Bestimmte zu entwerfen. Mit
anderen Worten: Ich trenne mich von einer
Bewußtseinsverfassung meiner selbst, indem ich die
andere verlasse. Endgültig. Da gibt es kein
Zurück.
HECTOR: Gibt es in dieser Konzeption einen
Zeitpunkt, an dem du dich nicht mehr trennen mußt?
Wenn die eigene Entwicklungsfähigkeit notwendig an
die Trennung vom Partner geknüpft ist, dann werden
ja die Abschiede zum Prinzip.
ARTHUR: Vielleicht. Auch Gehenkönnen will gelernt
sein.
LUCIA: Im Grunde geht es bei diesen Kofferaktionen
ja gar nicht ums Gehen. Das echte Gehen ist doch
eine große Illusion. Ich bin gegen die
Verschiebungen der Sehnsucht von einem Menschen
auf den nächsten, gegen den unendlichen Regreß. In
der kompletten Erfüllung kann man nie ankommen,
weil in diesem Zustand das erfüllte Glück und das
pure Nichts in eins fielen.
REBECCA: Und die Sehnsucht wäre genau dann
gestillt oder stillgestellt. Es gäbe sie nicht
mehr, keine Bewegung, keine Intention auf etwas
hin. Das große erfüllte Glück bedeutet doch
Stagnation.
LUCIA: Eben. Die Aufhebung der Sehnsucht ist das
Ende. Das Ende jeglicher Differenzstruktur und
damit der Bestimmungsfähigkeit dessen, was wir
empfinden oder nicht empfinden, was wir haben und
was wir entbehren. Trennung ist auch die bewußte
Setzung von Differenz, um sich und den anderen
wieder in Bestimmtheit wahrnehmen zu können.
HECTOR: Das ist ein Plädoyer für die Notwendigkeit
von Bildern, Vorstellungen, Projektionen vom
anderen, auch oder gerade weil man sie als solche
erkannt hat. Die Geliebte muß mir zunächst fiktiv
gegeben sein, damit ich sie in Wirklichkeit
erreichen kann. Ohne die poetische Distanzierung
gibt es keine reale Begegnung.
ARTHUR: Will sagen: Liebe findet im Kopf statt.
CHARLOTTE: Auch im Leben, oder? Ich kann nun das
voneinander nicht trennen. Was war zuerst,
Projektion oder übermächtiges Gefühl? Das ist doch
beides ursprünglich.
REBECCA: Findet auch die Trennung zuerst im Kopf
statt oder steckt nicht doch ein ganz reales
Geschehen dahinter? Wenn aus der Nähe zum
Geliebten plötzlich ein Abgrund wird, eine
unüberwindbare Distanz.
LUCIA: Ja, unsere wiederholten Trennungen waren
natürlich nicht bloß ein Spiel, ein Zwangsritus,
sie waren immer Ausdruck für das Gefühl der
Unmöglichkeit, in unserer Liebe die
unüberwindbaren Gegensätze aufzuheben. In der
Situation vor dem Entschluß zu gehen, erschien mir
die Liebe zu ihm wie ein einziges großes
Mißverständnis, eine gepflegte Illusion.
ARTHUR: Auch wenn man Verhaltensweisen eingespielt
hat, verlieren sie also nicht ganz ihre Bedeutung.
CHARLOTTE: Worum geht es dann in diesen
Trennungen, die keine endgültigen werden? Taucht
da nicht immer wieder ein Punkt zwischen den
Liebenden auf, der nicht kompatibel ist? Etwas
Grundsätzliches, als Mauer zwischen zwei Menschen.
Wenn diese erst einmal aufgebaut ist, ist die
Entscheidung zur Trennung die einzig mögliche
Antwort. Warum hält man sie nicht durch?
HECTOR: Weil es, solange ich den anderen noch
liebe, nichts Grundsätzliches jenseits der Liebe
geben kann. Die vernunftgesteuerte Wahrnehmung der
unüberbrückbaren Differenz der Lebenseinstellungen
wird durch das Gefühl, immer noch zu lieben,
aufgehoben.
ARTHUR: Mir scheint, daß sie nur aufgeschoben
wird. Der neuralgische Punkt ist nicht
auszulöschen, andernfalls hätte das
Sich-trennen-Wollen doch irgendwann ein Ende.
LUCIA: Deshalb nehme ich mir nach jeder versuchten
Trennung vor, sie nicht noch einmal zu
wiederholen. Nach der Trennung gibt es für mich
keine Intentionalität mehr im Leben, und ich habe
es nie soweit kommen lassen, eine Intention zu
entwickeln, die autonom, unabhängig vom anderen
existierte.
JAN: Du kannst schlecht allein sein.
GABRIEL: Ist das ein prinzipieller Makel? Die
geforderte Autonomie des liebenden Subjekts ist
doch ein längst durchschauter Mythos, der in der
antibürgerlichen Revolution errichtet worden ist.
Warum immer diese Dichotomien? Ich habe auch in
meiner Partnerschaft ein ganz eigenes Leben,
eigene Interessen und ein selbstreflexives
Verhältnis zu dem, was ich tue, fühle, will. Ich
gebrauche den anderen nicht, brauche ihn aber von
jeher, weil ich mir ein Leben ohne Dialog nicht
vorstellen kann oder will.
LUCIA: Ja. Trennung bedeutete immer einen Riß des
Fadens. Daß ich dennoch nur mit ihm einen neuen
Faden spinnen wollte, das hängt vielleicht
zusammen mit einer diffus-romantischen Vorstellung
von dem Ganzen, was mein, unser Leben irgendwann
sein sollte. Ich habe die Partner nicht
gewechselt, um aus meinem Leben eine Entwicklung
zu machen, ich wollte diese Veränderung immer mit
demselben Geliebten.
GABRIEL: Wie war es, als du zurückkamst? Genauso
wie vorher?
LUCIA: Ja und nein. Natürlich hatten wir uns nicht
über Nacht zu neuen Menschen gemacht, aber wir
waren doch andere als vor der Trennung. Ich habe
die bedeutungsschweren Dinge aus dem Koffer wieder
an ihre Stelle gesetzt, in den Schrank, ins Regal
gelegt. Es waren nun wieder Dinge, belanglose
Utensilien mit Gebrauchscharakter. Ich habe das
Geschichtliche an ihnen zerstört, indem ich sie
zurücklegte an die Orte, die nach der Trennung
frei geworden waren als bloße Plätze, an denen
etwas gelagert wird und nichts mehr bewahrt.
AARON: Als du alles wieder einsortiert hattest,
habt ihr dann weiter gestritten oder euch
versöhnt, wie ging es weiter?
JAN: Ein bißchen weitergestritten schon, wir
konnten nicht einfach das Programm wechseln. Aber
im ruhigeren Gespräch wurden Probleme dann
formuliert und damit plötzlich zu einem dritten
Gegenstand, der mit uns nicht mehr viel zu tun
hatte. Die Sache war passé. Aus dem Anlaß des
Streites und dem Grund der Trennung war ein
abstrakter Begriff geworden. Das, was wir daran
verstanden haben, war zum Teil unseres neuen
Selbstverständnisses geworden, unbegrifflich,
hinübergeflossen in die Sprache der Augen, es war
da, ohne noch einmal diskutiert werden zu müssen.
SALOME: Ich kenne diese vorübergehenden
Trennungen. Danach gab es einen Neuanfang, aber
mit dem Wissen darüber, was wir an den anderen und
am anderen, am Bild, das wir von ihm hatten,
verloren haben. Trennung bedeutet eben auch
Vernichtung einer bestimmten Auslegungsweise.
Danach ist man bereit, neue Interpretationen des
anderen und des gemeinsamen Lebens zu versuchen.
GABRIEL: Ja, man muß irgendwann und immer wieder
mal den Tisch ganz abräumen. Aber wie groß ist der
Verlust, der entsteht, wenn plötzlich der einzige
und intimste Zeuge der eigenen Vergangenheit
wegfällt, nur noch die subjektive Erinnerung
bleibt?
ARTHUR: Die Außenperspektive geht verloren, das
Korrektiv, die zweite Deutung dessen, was mein
Leben bis dahin war, das ich mit der anderen
geteilt habe. Meine Vergangenheit wird erst dann
ganz meine, aber sie entzieht sich nach der
Trennung von ihrem Teilhaber auch der anderen
Deutung, sie sedimentiert sich, wird starr.
GABRIEL: Was doch nichts anderes heißt, als daß
ich mit der Entscheidung zu gehen, erst über die
Interpretation der vergangenen und nicht
ausgelebten Ereignisse entscheide. Ich fixiere sie
auf das Ende hin und beraube mich damit der
Möglichkeit, über meinen Lebensweg noch einmal
anders entscheiden zu können.
ARTHUR: So entsteht die eigene Geschichte. Bliebe
alles Erlebte für zukünftige Deutungen offen, wäre
man ja immer am Nullpunkt des eigenen Weges.
Irgendwann muß man sich entscheiden – und oft tut
man es erst in der Trennung vom anderen. Und
dieser interpretatorischen Entscheidung über die
gemeinsame Vergangenheit sind alle Entscheidungen
gegen die versäumten Möglichkeiten inhärent. Um
diese andere Geschichte, die ich hätte haben
können, trauere ich im Moment des Gehens, weniger
um die Frau, mit der ich nun nicht mehr
zusammenleben werde.
SALOME: In der Liebe ist der andere Zeuge meiner
Geschichte und daher Verwahrer ihrer Spuren. Er
ist nicht nur Spiegel, sondern Gedächtnis, und
zwar nicht nur der Lebensstrecke, die wir zusammen
gegangen sind, sondern auch Gedächtnis meines
Ursprungs, das heißt des positiven und
aufwertenden Selbstbildes, das ich in seinem Blick
im Moment der Begegnung gefunden habe. Indem ich
mich von dem anderen losreiße, reiße ich mich los
von den Erinnerungen, von den Spuren meines
Selbst, von einer Lebensstrecke, die mir viel
bedeutete. Ein Teil von mir selbst stirbt. Aber
die Liebe, selbst wenn sie sterblich ist, ist
wahr. Sie ist so wirklich wie das Leben selbst.
JUDITH: Was die endgültigen Trennungen angeht, was
nimmt einer mit in seinem Koffer?
REBECCA: Ich lasse alles stehen, ich nehme nichts
mit. Ich gehe ohne Koffer, nur mit der Erinnerung
an etwas, das hinter mir liegt. Wann immer ich
mich getrennt habe, habe ich mich von einem
Bewußtseinszustand, einem Lebensgefühl getrennt.
Nach der Trennung werde ich eine andere.
SALOME: Die Menschen trennen sich, weil sie eine
neue Idee des Verhältnisses zu sich selbst
entwickeln, und da paßt die eigene Vergangenheit
mit dem Geliebten nicht mehr hinein. Häutung. Der
andere bleibt dabei auf der Strecke, vielleicht,
weil man ihm Entwicklung auf ein neues Bild hin
nicht zutraut. Die meisten arbeiten in ihren
Beziehungen doch etwas am anderen ab, und wenn sie
sich erkannt haben und es langweilig wird, dann
trennen sie sich. Trennung könnte man beschreiben
als eine Strecke von Selbstablösungsprozessen.
ARTHUR: Steckt in diesem Anderswerden eine
Entwicklung?
REBECCA: Ich denke schon. Nicht im Sinne einer
qualitativen Steigerung, was ist schon Steigerung?
Ich glaube nicht an den Gedanken einer objektiven
Entwicklung, sondern an das Gute im Wechseln der
Lebenssituation, in der ich mich gerade befinde.
In der Veränderung spüre ich eine Befreiung.
AARON: Oh nein. Bevor wir uns getrennt haben, gab
es unzählige Kehrtwenden bei meiner damaligen
Freundin. Anrufe, plötzliche nächtliche Besuche.
REBECCA: Ich muß mich korrigieren. Ich habe die
Schlüssel von meinen Verflossenen noch längere
Zeit behalten.
JUDITH: Die Schlüssel als Symptom der noch nicht
beendeten Liebe?
GABRIEL: Die Schlüssel zur Wohnung des anderen,
die noch so lange von Bedeutung sind, wie der
andere noch Schlüssel zum eigenen Ich zu sein
scheint.
CHARLOTTE: Und wann gibt man sie zurück?
REBECCA: Wenn die Illusion als Illusion bewußt
wird, daß der andere mir irgendwie helfen könnte,
etwas noch nicht Bekanntes meines Ichs zu
verstehen.
HECTOR: Der andere hilft einem nie dabei, weil er
sonst zum Therapeuten wird. Und therapeutische
Beziehungen sind das Ende der Liebe. Ich habe mir
bei Trennungen immer zuerst Gedanken gemacht, wie
ich die Schlüssel wieder einfordern könnte. Das
war das I-Tüpfelchen, die Schlüssel
zurückzufordern, und ich habe es immer bis zum
letzten hinausgezögert, weil es den Charakter der
Endgültigkeit hatte.
SALOME: Ich habe sogar meine Briefe
zurückgefordert, ich bekam sie mit einer Schleife
wieder. Bloß keine Briefe bei dem anderen lassen.
Wenn meine Worte nicht mehr gültig sind, sollen
sie zu mir zurückkehren, damit ich über sie
verfügen, sie als Dokument meiner Vergangenheit
aufheben oder verbrennen kann.
JUDITH: Aber die Briefe sind doch auch ein Teil
der Vergangenheit des anderen. Ich würde meinem
ehemaligen Freund nie seine Briefe zurückgeben.
Das ist mein Eigentum.
SALOME: Und doch nur Vergangenheit, die dem
anderen sowenig wie mir selbst gehört.
JUDITH: Ja, Briefe sind nicht ewig tödlich. Aber
sie sind doch eine Spur, die ich beim anderen oder
er bei mir hinterlassen hat, und ich behalte mir
vor, diese Spur später einmal wieder freilegen zu
dürfen, wenn ich Lust dazu habe.
JAN: Ich habe eine schöne Kiste, da werfe ich
alles rein, und alle zwei Jahre greife ich rein
und ziehe etwas heraus.
AARON: Eine Beziehungskiste sozusagen.
JAN: Das ist sehr spannend. Meine Vergangenheit
mit den Geliebten kommt mir dann ganz
fremd-vertraut entgegen. Es ist, als läse ich in
der Autobiographie eines Dritten. Das Geschehene
ist wieder präsent und eingewoben in mein Leben,
aber es ist nicht mehr erklärungsbedürftig,
fragwürdig. Das Geschehene ist da als es selbst,
und ich empfinde ihm gegenüber eine zärtliche
Gleichgültigkeit. Da wird das Leben zur
Lebensgeschichte.
SALOME: Das verstehe ich. Was ich nicht verstehen
kann, ist der Bewahrungszwang, der schon mit der
Trennung beginnt. Ich kenne das von einem früheren
Geliebten, ein sehr nostalgischer Mensch, der
stark in der Vergangenheit lebt. Er hat alles
aufbewahrt und gepflegt, wie ein Heiligtum
konserviert, und eigentlich war das Bewahrte doch
nichts anderes als ein Relikt dessen, was wir
zusammen erlebt haben. Menschen, die sehr stark in
der Vergangenheit leben, kommen nicht weiter im
Leben, sie entwickeln sich nicht. Sie bleiben an
den frühen Bildern hängen, trennen sich nie.
ARTHUR: Ich weiß nicht, ob man das Maß einer
vollzogenen Trennung wirklich an der Präsenz von
Gegenständen, Zeichen und Symbolen ablesen kann.
Es gibt einen großen Unterschied zwischen denen,
die bewußt alles mitnehmen oder alles
zurückbehalten, was zu der gemeinsamen Zeit
gehörte, und denen, die sich um die
zurückgelassenen Spuren nicht weiter scheren.
AARON: In meinem Kleiderschrank hängen noch immer
Klamotten von meinen früheren Freundinnen. Die
werden vielleicht darauf warten, daß ich sie ihnen
zurückgebe. Wahrscheinlich glauben sie auch, sie
hätten Spuren hinterlassen, dabei habe ich sie
noch nicht einmal bemerkt. Ich greife wie Jan
irgendwann in die Kiste, dann taucht eine
Erinnerung wieder auf, aber sie ist nicht mehr
besetzt, sie verändert sich.
HECTOR: In meinem Schrank hingen einmal vergessene
Sachen von drei Frauen. Eines Tages habe ich sie
weggeschmissen.
JAN: Ich habe nur einmal gepackt. Da mußte ich
gehen und überlegen, was ich mitnehme. Sie hat
mich rausgeschmissen. Das war für mich ein absolut
traumatisches Erlebnis, ich war nicht einmal
wütend oder eifersüchtig, ich habe es einfach
nicht verstanden. Und eigentlich ist auch im
Rückblick alles daran unverstanden geblieben. Ich
habe mein Zeug gepackt und bin gegangen.
CHARLOTTE: Du ziehst die Rolle des Verlassenden
vor?
JAN: Ja. Was nicht heißt, daß man deshalb per se
der Verlassende ist. Mein Einpacken hat wenig zu
tun mit dem Koffer. Ich packe mich selbst ein in
der Trennung.
LUCIA: Und suche mich und suche mich und finde
nichts..
GABRIEL: Noch einmal: Was muß man einpacken, um
wirklich zu gehen?
LUCIA: Man darf nicht einpacken, man muß geben,
aufgeben, hinterlassen. Ich bin ja nie gegangen.
Mein Koffer war letztlich nichts anderes als der
letzte Versuch einer Bewahrung unserer Liebe und
die Verhinderung des furchtbaren Eingeständnisses:
Ich habe den anderen nicht erreicht. Wenn ich
einmal wirklich ginge, dann nicht in diesem Stil
mit all den Klamotten und der Dramatik. Irgendwann
in der Badewanne wird es mir einfallen, daß unsere
Liebe ausgeliebt ist, Schluß, vorbei. Keine
Erregung, keine Dramatik mehr. Dann werde ich ohne
Ankündigung und ohne Koffer gehen. Zigaretten
holen – und nicht mehr wiederkommen. Jan hätte
keinen Zug mehr im Spiel.
ARTHUR: Wer geht, der läßt zurück, der nimmt
nichts mit.
CHARLOTTE: Ich habe bei Trennungen immer etwas
zurückgelassen, nie etwas mitgenommen, weder die
gesammelten Briefe noch die Augenblicke im dunklen
Licht des Abends, weder die kleine Sammlung der
Liebeszeugnisse noch meine Erinnerungen. Das
Gefühl, das mich begleitet hat, war dieses: Alles
war vorbei. Die Zeit steht still.
ARTHUR: Warum? Nach der Trennung fängt doch die
Zeit, das neue Leben, erst wieder an?
HECTOR: Welches neue Leben? Wird das Leben in der
Liebesbeziehung stillgelegt? Hält der Fluß der
Zeit an? Ich glaube, daß in diesem Gedanken
idealistische Vorstellungen von einer ewigen Liebe
nachhallen, in denen die Zeit keinen Raum hat, in
denen die Liebe absolut zu sein hat. Eine
Liebesvorstellung ohne Entwicklungs-, ohne
Zeitaspekt, weil sie ja immer schon als absolute
Liebe gedacht wird.
LUCIA: Absolute Liebe ist eng gekoppelt an die
Idee der Zeitlosigkeit, der Vollendung. Ich spüre
daran, wie die Zeit verfließt. Nach der Trennung
gab es keine Zeit mehr, keinen Raum, keine Welt.
Die Welt um mich war schal, geräuschlos und
unerträglich laut zugleich, keine Komposition
mehr, sondern Reihung von Fragmenten,
Sinnesreizen. Kein Halt und kein Halten an dieser
Welt ohne den anderen. Die Welt nach der Trennung
war bedeutungslos, unendliche Stille.
ARTHUR: Eben Welt. Ist das nicht auch reizvoll,
diese Unausgelegtheit der Welt, diese Offenheit
und neue Auslegbarkeit?
REBECCA: Das heißt doch: Welt als das 'Daß etwas
ist'. Natürlich staune ich darüber, daß überhaupt
etwas ist außer mir und ihr und uns, außerhalb
jeder Interpretation und Hinsichtnahme auf uns
hin. Aber das Staunen hört schnell auf. Es endet
im Wahnsinn. Kein Zeichen besagt mehr irgendetwas.
Die Dinge sind nur für sich, nicht mehr im
Hinblick auf etwas anderes. Für mich ist das der
absolut unpoetische Zustand.
LUCIA: Wo nichts mehr auf etwas anderes verweist,
wo keine Deutungen mehr möglich sind, wo diese
große Unbeweglichkeit und Endlosigkeit der Welt
Raum gewinnt, wo alles nur es selbst ist. Ich
finde das Man-selbst-Sein, die Selbstbezüglichkeit
völlig paranoid und unendlich langweilig, halte
die Idee einer endgültigen Selbsterkundung für
eine geschickte Marktstrategie der
Psychoanalytiker im Zeitalter eines desaströsen
Narzißmus.
SALOME: Die Idee der Entfremdung verklärt und
romantisiert, ja heroisiert die Unfähigkeit zu
lieben, die Angst, teilzunehmen und mitzuleiden.
Sie entartet in Tourismus, eine Reise ohne Anker
und Hafen, ohne Liebe, ohne Tiefe. Eine Reise auf
der Oberfläche, platt, ohne Anfang und Ende.
LUCIA: So stelle ich mir den Tod vor. Ich bin
nicht mehr dabei. Nichts ist mehr Prozeß, nichts
Bewegung. Stille und die Welt – ein einziges
großes sinnloses Bild. Ich gehöre nicht mehr dazu,
stehe jenseits der Grenze und sehe keinen Anlaß,
in dieses ewige Chaos wieder einzutreten.
CHARLOTTE: Wann trennt man sich überhaupt? Woher
weiß ich, daß es jetzt wirklich zu Ende ist?
SALOME: Wenn seine Liebesworte an mich bloße
Beteuerungen geworden sind, er keine Zeit mehr für
mich hat, bin ich eine Liebesimmobilie in seinem
Besitzstand geworden: Küßchen morgens, Küßchen
abends, ein bißchen Urlaub, ein bißchen Sex, ein
paar Versprechen und dazwischen nur seine
Abwesenheit.
JAN: Die andere liebt plötzlich ihren Beruf, sie
geht auf in einem Bewußtsein, das nur ihr gehört
und das sie selbst bestimmt. Sie ist einfach nicht
mehr da, und ihre sparsame Nähe zu mir ist nur
eine, die sie ihrem eigentlichen Interesse
abgespart hat.
JUDITH: Wenn das Zusammensein mit dem anderen zum
eingespielten Ritus geworden ist, wenn zwischen
dem, was wir zusammen machen und dem, was man mit
Benjamin eine Erfahrung nennen darf, ein Abgrund
klafft. In dem Moment, wo das gemeinsame Leben nur
zur Wiederholung verabredeter Muster geworden ist.
GABRIEL: Die Qualität des Geschehens zwischen mir
und der anderen ist dann prinzipiell voraussehbar.
Es gibt keine Eventualitäten, keine Ein- oder
Ausbrüche mehr, keine Möglichkeit der Fremdheit
zwischen uns. Die Geliebte muß für mich in meiner
Phantasie offen bleiben für ein unerwartetes Ja zu
einer neuen Lebensentscheidung oder für ein
plötzliches Nein zu einer schleichenden Anpassung
an das, was man so tut. Wird sie zum Typus, dann
ist Bewegung nicht mehr denkbar, dann senken sich
die Schatten.
ARTHUR: Ich trenne mich von meiner Freundin, wenn
ich sie mit einem anderen im Bett finde. Wir haben
uns dann nichts mehr zu sagen, sie hat das, was
sie lebendig machte, einem anderen gegeben. Wer
das Geheimnis seines Bettes preisgibt, verwirkt
sich alle Liebe.
REBECCA: Nur weil sie dich körperlich betrogen
hat? Das finde ich lange nicht so gravierend wie
das geistige Fremdgehen. Ich treffe einen anderen,
mit dem ich mich intensiver unterhalte als mit
meinem Freund; ich sehe den anderen immer
häufiger, eine Verbindung entsteht, und eines
Tages habe ich den früher Geliebten innerlich
längst verlassen, noch bevor ich mit dem Neuen je
intim war. Die platonische Variante der
Entfremdung ist doch viel entscheidender.
ARTHUR: Aber sie kann von mir als dem Betrogenen
doch gar nicht ermessen werden. Schluß ist, wenn
meine Geliebte mit einem anderen auch nur Händchen
hält. Wenn sie sich öfter mal mit ihm trifft, weil
er so schön über Goethe-Gedichte zu sinnieren
versteht, kann ich über den Grad ihres
Verliebtseins doch nur spekulieren. Ich bin da
ganz Materialist. Nur im Körperlichen gibt es
absolute Grenzen. Das faktische Geschehen
überzeugt mich mehr als die Ausflüge meiner
Freundin ins Geistige. Da ist alles unbestimmbar.
AARON: Aber die Entfremdung, die im Geistigen
stattfindet, ist endgültiger als die körperliche.
Der Mund verliebt sich neue Sprachen ein und küßt
bald einen anderen.
CHARLOTTE: Und was spürt man im entscheidenden
Moment, was passiert da, damit ich weiß: Es ist
Zeit, mich von ihm zu trennen?
JAN: Was passiert? Na, es tritt eben das Gefühl
ein: Das war's. Du spürst es, fertig. Da gibt es
keine weiteren Fragen und schon gar keine
Begründungen. Ich war einmal mit einer Frau in
Paris, und während wir da glücklich waren,
breitete sich in mir eine behaglich-ruhige
Sicherheit aus, daß wir am nächsten Tag nach Hause
fahren und es danach keine Zukunft mehr für uns
geben würde. Ein solches Gefühl habe ich in der
Beziehung zu meiner jetzigen Frau nie gehabt. Die
Spannung ging nie verloren.
JUDITH: Und das geschah, obwohl du mit der Frau
körperlich noch so nah warst?
REBECCA: Was ist schon körperliche Nähe? Mein
Körper hatte kurz vor der Trennung das Gefühl
verloren, daß da noch jemand anders ist, es gab
keine Distanz mehr und insofern war's auch um die
Nähe geschehen.
JAN: Der Körper gibt mir das Signal für die
bereits vollzogene Entfremdung. Ich habe mich
eigentlich nie abrupt von einer Frau getrennt, ich
wußte, daß die Sache nicht mehr stimmt, aber es
plätscherte so weiter, weil es bequem war. Ich
ging mit ihr noch immer ins Bett, weil es keinen
Anlaß gab, mich zu trennen. Irgendwann sah ich an
einer Theke eine Frau mit einer großen
Ausstrahlung und wußte dann plötzlich, daß meine
Freundin für mich eigentlich nicht mehr
existierte. Die andere Frau hat mich durch ihr
Geheimnis an sich gebunden, ohne daß ich meine
Freundin je mit ihr betrogen hätte. Mit der einen
war ich zusammen, und an die andere dachte ich.
GABRIEL: In der Situation des Zweifelns macht man
also vergleichende Forschungen?
JAN: Nein, ich habe nicht verglichen. Das läuft
ganz unbewußt. Die Sache läuft so dahin, diffus
und ohne große Stürme. Langsamer Abschied. Auf
einmal ergibt sich ein Bild von dem, was ich bei
ihr nie gefunden habe, und in dem Moment ist
völlig klar: Es hat einfach keinen Sinn mehr.
SALOME: Man findet nie alles bei einem bestimmten
anderen Menschen, was einem an Bildern in den Kopf
kommt. Irgendwann muß man sich entscheiden zu dem
vielen, was man vom anderen bekommt und gegen das
Viele, das er nicht geben kann.
JAN: Zu der Zeit damals habe ich mich nicht
entschieden, ich habe Erfahrungen gemacht. Bis
Lucia kam.
ARTHUR: Und was war da so anders?
JAN: Nichts eigentlich. Über das gewisse Etwas,
was uns aneinander kettet, können wir nicht
sprechen, dafür gibt es kein Wort. Da es
uneindeutig bleibt, ist es auch unzerstörbar.
Irgendwo hört die Sprache auf, und die Liebe
beginnt.
REBECCA: Irgendwo hört die Sprache auf und die
Trennung beginnt. Die Worte, die ich für den
anderen finde, sind doch auch nie eindeutig, sie
schreiben nichts fest und zerstören darum auch
nichts. Sie bleiben ambivalent und mehrdeutig, und
derselbe Satz führt mich auf immer neue Weisen zum
Geliebten. Wo die Sprache endet, endet auch die
Liebe.
LUCIA: Ich habe mich immer dann getrennt von ihm,
wenn wir in der totalen Kommunikationslosigkeit
angelangt waren. Er stand am Fenster, verstummt,
ohne Mund. Ich habe geredet, Antworten gefordert,
ich war ein einziger Mund. Unser Streit war das
vollendete Scheitern jeglichen Gesprächs. Er
blickte in die Ferne, und jedes meiner Worte war
das Wort zuviel, ich trug den Streit aus, der
andere ertrug ihn. Dann ging ich, denn wo es
keinen Widerstand mehr gegen meine Worte gibt,
keine Gegenrede, da ist nichts mehr zu holen. Das
ist das Ende: nur noch ich, die mir
entgegenklingt, und der andere untergetaucht
zwischen den Zeilen, die ich an ihn richte.
AARON: Gar keine Worte. Das ist schrecklich. Aber
zuviele Worte können zerstörerisch wirken, weil
sie ein Drittes in die Zweisamkeit bringen.
SALOME: Ich bin überzeugt von der Notwendigkeit
der Worte, des Dritten in der Liebesbeziehung.
Sonst bewegt sich nichts, die Zuschreibungen und
Bedeutungen bleiben starr.
ARTHUR: Wir haben eine Reihe verschiedener und
widersprüchlicher Trennungsanlässe angesprochen.
Einer ist die negative Epiphanie ohne Begründung,
ein anderer die langsame Einsicht in die
Lieblosigkeit der Liebe. Einige unter uns
begründen ihre Trennung vom Geliebten mit den
ausgebliebenen Worten, andere mit der Entfremdung
des geliebten Körpers. An beiden aber hängt man,
an den Worten des anderen und an seinem Körper.
Wie lange dauert der Ablösungsprozeß nach der
Trennung?
REBECCA: Das variiert. Die Trennung von meinem
ersten Freund hat Jahre gedauert, im Grunde war
die ganze Beziehung nach der Erkenntnis der
Ungleichwertigkeit unserer Gefühle ein einziger
Abschied. Aber ich konnte nicht gehen, weil der
andere mich permanent negiert hat, ich war ein
Nichts. Und wenn ich ging, ging nichts. Erst seine
Bejahung meiner Person hätte mir erlaubt, zu
gehen. Um diese Bejahung und Anerkennung habe ich
jahrelang gebettelt, um endlich frei zu sein.
LUCIA: Negativ gebunden durch das Ausbleiben
seines großen 'Ja, ich liebe dich'.
REBECCA: Es war die Hölle, und sie hat ewig
gedauert, bis endlich andere Männer mir gezeigt
haben, daß ich sehr wohl etwas bin.
JAN: Oft vollzieht man den endgültigen Bruch
wirklich erst dann, wenn eine Dritte oder ein
Dritter auftaucht. Die Liebe zu meiner ersten
Freundin war längst vergangen, aber wir haben uns
dennoch gesehen. Erst als sie eines Tages sagte:
"Du, es gibt einen anderen Mann in meinem Leben",
war wirklich Schluß. Es war eine Beziehung in der
Schwebe, und trotzdem war das faktische Ende
unseres Verhältnisses für mich ein Schlag. Ich
habe mehr gelitten, als ich es mir vorher
vorgestellt hatte.
ARTHUR: Bei mir geht so etwas immer ganz radikal,
zack-zack. Wenn die Sache entschieden ist, gibt es
keine Begegnungen mehr mit ihr. Was würde das noch
bringen? Erneute Unsicherheit, erneute Reflexion,
die Verlängerung der Qual.
JUDITH: Wie lange dauert es, bis du wirklich nicht
mehr an sie denkst, bis du ihre Spuren aus deinem
Leben gewischt hast?
ARTHUR: Ich versuche, die Erinnerung und die noch
vorhandenen Gefühle möglichst schnell bis an ihr
Ende zu führen. Ich steigere den Schmerz durch
traurige Musik, isoliere mich vollständig, ich
bringe mich an die Grenze meiner Leidensfähigkeit
– und nach ein paar Tagen ist das Leiden
ausgereizt, es sticht nicht mehr. Das Frühstück
schmeckt mir wieder, das Kino, ein Spaziergang,
die Gesellschaft anderer Menschen machen mir
Freude. Ich halte nichts von den langsamen
Trennungen, in ihnen verfließt der Schmerz in der
Zeit und endet in der Langeweile, die mir von
verlassenen Geliebten entgegenschlägt. Lieber
leide ich intensiv und bewahre mir das Besondere
an ihr, das die Zeit nur zerstören würde.
CHARLOTTE: Dein Verhalten setzt viel Autonomie
voraus und auch eine gehörige Portion an Ignoranz,
milder gesagt: die Fähigkeit zu vergessen. Vor
allem scheint es mir aber typisch zu sein für den,
der verläßt. Was passiert, wenn man der Verlassene
ist, derjenige, der eigentlich noch liebt, den die
Entscheidung des anderen plötzlich trifft und der
sie nicht akzeptieren will?
HECTOR: Bei denen, die verlassen worden sind,
schwankt das Spektrum der Reaktionen zwischen
totaler Ohnmacht und totaler Verausgabung. Die
Ohnmacht äußert sich in einem Gefühl von
körperlicher und geistiger Lähmung. Es ist, als ob
du deine Finger nicht mehr zu irgendwelchen
Arbeiten bewegen könntest. Du liegst auf deinem
Bett und läßt die wirren Gedanken und Bilder wie
in einem Karnevalszug an dir vorbeirauschen. Dein
einziger klarer Gedanke ist, daß du existierst.
Aber das nützt dir nichts. Schließlich stehst du
auf, gehst aus dem Haus, ohne zu wissen wohin. Du
hörst das Klacken deiner Schuhe auf dem steinigen
Untergrund, aber dieses wie alle Geräusche, die du
sonst noch vernimmst, kommen dir unwirklich vor.
Du gehst, aber du bist völlig ohne Intention, ohne
Ziel, ohne Willen. Und plötzlich senkt sich der
Himmel auf deinen Kopf herunter, die anbrechende
Abenddämmerung schleicht sich angstmachend in
deine Glieder ein. Machtlosigkeit, Dunkelheit. Es
rauscht an dir vorbei. Du kennst kein Morgen.
CHARLOTTE: Das klingt sehr aussichtslos. Als ob
keine Rettung möglich wäre.
HECTOR: Die Zeit nach der Trennung war für mich
Surrealismus pur. Nichts, kein Ort, kein Geruch,
kein Geräusch war ohne Beziehung auf sie, es gab
überhaupt keine Gegenstände, keine Welt, sondern
nur Hinweisschilder, Zeichen, die Halluzinationen
von ihr heraufbeschwörten. All das hatte erst ein
Ende, als ich die Stadt wechselte, mir ein neues
Terrain eroberte, das nicht mit ihrer Präsenz
verwoben war.
JUDITH: Ich kenne die Situation der Flucht in eine
andere Stadt auch, aber ich war nicht die
Verlassene, ich habe verlassen. Trotzdem mußte ich
mir etwas eigenes aufbauen, mußte den flehenden
Blicken des Freundes, der Möglichkeit, ihm an
jeder Straßenecke begegnen zu können, mußte seinen
Vorwürfen und vielleicht auch meinen
Schuldgefühlen entkommen. Ich wollte ganz neu
anfangen und dabei unbeobachtet sein, außerhalb
seines Wahrnehmungsfeldes, von ihm verlassen. Ich
mußte seine Spuren aus meinem Leben tilgen.
REBECCA: Trennung und Tod. Man muß den anderen
sterben lassen, um wirklich gehen zu können.
SALOME: Tod ist Vereinheitlichung. Der Tote ist
meinem Bewußtsein einverleibt, er existiert nur
noch in der Erinnerung. Der Geliebte bleibt immer
der Widerständige, der andere. Im Tod heben sich
die Grenzen zum anderen auf.
LUCIA: In der Trennung wird die Liebe noch einmal
auf einen dramatischen Höhepunkt getrieben, der
der Intensität des gemeinsamen Orgasmus
entspricht. Das 'Danach' ist immer eine
Beruhigung, ein Verebben des Sturms, das Eintreten
der kleinen Tode in die Zeit.
REBECCA: Die kleine Entzweiung nach der
gemeinsamen Liebesnacht. Ich gehe durch den Tag,
wieder nur ich, der andere irgendwo in seiner
Welt, ich verstehe nicht, warum diese größte Nähe
nicht länger dauern darf, und die Spuren an meinem
Körper so viel länger mahnen an das kurze Glück.
"Mein Kopf ist voll Tau, aus meinen Locken tropft
die Nacht", weint mein Körper um den Verlust.
GABRIEL: Die Tränen um den anderen. Sind sie nicht
ein Schleier, um den anderen nicht mehr sehen zu
müssen? Man weint nie um den Verlust, das ist die
pure Selbsttäuschung, jedenfalls wenn man selbst
verläßt. Man weint, um den anderen nicht mehr
sehen zu müssen, weil es nur um einen selbst geht.
LUCIA: Gut war es, wenn die Tränen versiegten.
Dann war ich einfach wieder da, er war wieder da,
ganz unmittelbar. Die Interpretationen und
Sichtweisen, die ganze Verstrickung und der Zwang
zur Deutung waren weggeheult. Und da sah ich ihn
wieder, unbegriffen, unausgelegt, unbesetzt, schön
wie eh und je. Der Anblick der Schönheit ist für
mich ein Lebenselixier. So etwas wie ein
Selbsterhaltungstrieb. Ich kann mir kein Leben
ohne das Schöne vorstellen.
REBECCA: Irgendwann nach der Trennung beginnst du,
den anderen wieder neu zu sehen. Ich habe zu
meinen Verflossenen nachher immer noch Kontakt
gehabt. Meist sind wir gute Freunde geworden. Ich
finde es ganz normal, daß man sich nicht ganz und
gar von jemandem trennen kann. Eine tiefe
Verbundenheit bleibt oftmals bestehen.
AARON: Ich habe mich einmal mit einer Ex-Freundin
nach längerer Zeit zum Abendessen getroffen. Wir
haben drei Stunden mühevoll versucht, uns zu
unterhalten. Aber es half nichts: Wir hatten uns
nichts mehr zu sagen.
SALOME: Das Umgekehrte kann der Fall sein. Nach
der Trennung spürst du, wieviel dir der andere
noch immer bedeutet und wieviel du ihm zu sagen
hast. Zärtlichkeit und Freundschaft sind mir eine
Stütze, denn sie vermeiden den völligen Verlust.
Die Leidenschaft geht darin ein, die Risse werden
vergessen.
ARTHUR: Dann ruft sie dich an, du weißt es genau,
daß sie es ist. Du sagst: "Hallo!" Sie meldet sich
nicht. Du sagst: "Wer ist da bitte?" Sie meldet
sich nicht. Mit einem Mal klickt es, und die
Leitung ist tot. Schweigen.
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