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Kapitel 6 Alltag Tisch und Bett
GABRIEL: Stell dir vor, du bist nun ein Jahr mit
der Frau deiner Träume zusammen, ihr lebt in einer
Wohnung, und die erste Phase des Liebessturms hat
sich gelegt. Das gemeinsame Leben beginnt sich
einzurichten. Regelmäßige Einkäufe, Verteilung der
Aufgaben, gemeinsame Freunde etc. Passiert in
dieser Phase des Übergangs und der Verfestigung
der Beziehung nicht etwas sehr Entscheidendes?
Oder anders gefragt: Ist das nicht der Punkt, an
dem sich entweder die ersten Risse andeuten oder
das Gefühl auftaucht, daß es für längere Zeit
klappen könnte?
HECTOR: Diese Phase vollzieht sich meistens
schleichend. Du spürst zwar irgendwann, daß es
nicht mehr so ist wie am Anfang, aber es sind dann
gemeinsam zu bewältigende Aufgaben da, die dich
nicht direkt auf das Problem der Abnutzung der
Beziehung lenken. Und das ist vielleicht gut so.
Wäre es anders, würden in dieser Übergangsphase zu
viele Schwierigkeiten auftreten. Die Beziehung
würde im falschen Moment in eine sehr verzehrende
Reflexivität hineingezogen werden.
JAN: Die Frage ist doch, was ich mir auf Dauer von
dieser Beziehung verspreche. Will ich ein
harmonisches, friedvolles Leben zu zweit? Oder
will ich die permanente Leidenschaft und
Ausschweifung aufrechterhalten? Mein Ideal ist,
beides miteinander in einer Beziehung zu
verbinden.
ARTHUR: Das ist die blanke Illusion. Nach einem
halben oder einem Jahr ist der erste große Ansturm
der Leidenschaft verwirkt. Danach kann es nur noch
darum gehen, die sich einstellenden Streitereien
oder das Hervortreten der Eigenarten des anderen
auszuhalten. Man muß sich darüber im klaren sein,
daß die so erzielte Harmonie ein Kompromiß ist,
dem du, wenn du die Beziehung auf Dauer anlegst,
nicht entkommen kannst.
LUCIA: Das ist wohl der Punkt des Eintritts in die
Realität der Liebesbeziehung. Was am Anfang
geschieht, ist der Ausnahmezustand, die
Entrückung, der Wahn. Nach einigen Monaten des
Abtastens schält sich dann der wahre Charakter und
der wahre Körper des anderen heraus. Du lernst ihn
allmählich kennen mit all den Eigenschaften, die
er aus seinem früheren Leben in der Familie, im
Beruf oder in Liebesbeziehungen mitbringt. Die
ganzen Schrullen und Idiosynkrasien. Wenn du all
das an ihm bemerkst, mußt du dich tatsächlich
fragen, ob du es aushalten kannst.
AARON: Das, was der andere vor allem aushalten
muß, ist der Teil von einem selbst, der man nicht
sein will. Den lernt der andere in seiner reinsten
Form kennen. Plötzlich hörst du zum erstenmal den
Vorwurf: Du bist so wie dein Vater oder deine
Mutter. Das ist dann der erste Moment, in dem die
Beziehung radikal in Frage gestellt wird. Da holt
dich deine ganze Geschichte plötzlich ein, sie
sagt dir, daß du die ganze Zeit versucht hast,
einen Teil von dir zu verleugnen, in dir
abzutöten. Und der andere hat einen scharfen Blick
für die Eigenarten, die nur aus dieser bestimmten
Familienstruktur zu erklären sind. Im selben
Moment merkt man, daß man gegen einen solchen
Vorwurf, so zu sein, wie... keinen Widerstand
entfalten kann. Du weißt, daß es die nackte
Wahrheit ist: Du bist auch dein Vater und deine
Mutter.
LUCIA: Das ist wahr. Es ist fürchterlich, wenn ich
zu hören bekomme: "Du kochst wie deine Mutter,
alles machst du wie deine Mutter." Im ersten
Moment merkt man die Verletzung daran vielleicht
nicht, ich sage es ja selbst manchmal.
HECTOR: Selbstverständlich ist es gräßlich, mit
den Eltern identifiziert zu werden. Jedoch hat der
Vorwurf manchmal auch eine positive Funktion. Er
kann dich dazu aufrufen, dich in allen
Gewohnheiten und Eigenschaften stets auf das
Überkommene hin zu prüfen. Seitdem ich zum
erstenmal gehört habe, ich sei wie mein Vater,
liege ich ständig vor mir auf der Lauer. Ich
beobachte mich beim Essen, Gehen und Sprechen.
SALOME: Diese Abgrenzung von Vater und Autorität
spricht für deinen freien Willen. Das würde ich
mehr Männern wünschen. Die meisten übernehmen
vollkommen kritiklos die Unarten ihrer Väter oder
machen sogar noch eine Tugend daraus.
CHARLOTTE: In dem Vorwurf liegt trotzdem etwas
Demütigendes. Denn vielleicht arbeitet man ein
ganzes Leben daran, sich vom Vater oder der Mutter
wegzubewegen, um die Fehler der Eltern nicht zu
wiederholen. Aus dieser Anstrengung erwächst ja zu
einem großen Teil das eigene Selbstbewußtsein. Und
dann wird dir schlagartig vor Augen geführt, daß
du aus dem Zwangskorsett deiner eigenen Herkunft
gar nicht ausbrechen kannst. Ich finde, daß gerade
in dieser Hinsicht zwischen den Partnern eine
größtmögliche Sensibilität vorhanden sein sollte.
Denn schließlich möchte ich nicht, daß der andere
in mir das sieht, was ich selbst in keiner Weise
sein möchte.
ARTHUR: Die Einschätzung des Partners ist
entscheidend, wenn man ein Stadium erreicht hat,
bei dem es um die Frage geht: Sein oder Nichtsein
der Beziehung. Dazu gehört vor allem, ob er deine
und du seine Marotten akzeptierst.
CHARLOTTE: Ich könnte nicht ein Leben lang einen
Mann ertragen, der mit Socken ins Bett geht.
REBECCA: Mein Freund geht nicht nur mit Socken ins
Bett, er zieht sich auch immer als letztes die
Socken aus und als erstes die Socken wieder an. Er
ist vollkommen fixiert auf dieses Kleidungsstück.
Das ist auf Dauer schon schwer zu ertragen. Ich
müßte ihn umerziehen.
LUCIA: Dann wird es nicht mehr so harmonisch bei
euch zugehen. Allerdings muß Harmonie durchbrochen
werden, um den Funken der Leidenschaft neu zu
entzünden.
GABRIEL: Kennt ihr Techniken, die Harmonie im
Alltag bewußt zu sprengen?
ARTHUR: Ja, man läßt den anderen in die Mine
treten!
GABRIEL: Welche Arten von Minen habt ihr denn zu
Hause?
ARTHUR: Alles, von der einfachen Tretmine bis zur
Splittermine.
JAN: Bei uns heißen die anders: Haarminen,
Zeitungsminen... Wer hat wieder die Haare in der
Dusche gelassen? Warum mußt du beim Frühstück
immer die Zeitung lesen?
AARON: Ich hasse gewellte und falsch eingeordnete
Bücher. Am liebsten würde ich mein Bücherregal
unter permanenter Kontrolle halten. Ich habe eine
bestimmte Ordnung in meinen Regalen, die nur ich
kenne und die auch mein Geheimnis bleibt.
Eigentlich müßte ich die Regelung einführen, daß
sie zuerst fragen müßte, bevor sie sich ein Buch
aus meinem Bestand ausleiht, damit ich genau
wüßte, welches Buch wo und zu welcher Zeit aus dem
Regal geholt wird.
REBECCA: Ich glaube, ich würde eher all deine
lieben Schätzchen in die Badewanne werfen und sie
mit Wasser sich vollsaugen lassen, bevor ich dich
um Erlaubnis fragen würde. Das wäre der Anlaß zum
Rosenkrieg.
JUDITH: Oder das Aufstehen! Ich will nicht immer
als erste aufstehen. Da fehlt mir die Bewegung.
Jeden Morgen versuche ich, diese Beharrlichkeit zu
durchbrechen. Ohne Erfolg. Das ist Zündstoff!
LUCIA: Das Schlimmste sind manche Körpergeräusche.
Ich kann es nicht ertragen, wenn der andere laut
schluckt. Ich bilde mir ein, daß er nicht richtig
kaut.
REBECCA: Bei mir ist das Schluckgeräusch ein
Gradmesser der Beziehung. Am Anfang stört es mich
noch nicht so sehr, aber es belastet mich
zunehmend, je länger die Beziehung andauert.
JAN: Und nur, weil unsere arme Kreatur einen zu
engen Hals hat.
AARON: Für mich ist es wichtig, wie man Reis kocht
und Auberginen schneidet! Ich habe nur eine
Richtung. Und wenn ich diesbezüglich keinen Streit
riskieren will, versuche ich, woanders hinzusehen,
wenn meine Freundin sie schneidet.
CHARLOTTE: Eine Aubergine schmeckt ganz anders,
wenn sie anders geschnitten ist.
ARTHUR: Das ist doch Schwachsinn.
AARON: Natürlich ist es Schwachsinn.
HECTOR: Wunderbar! An diesen Beispielen zeigt
sich, daß Liebe das Ausleben des Wahnsinns ist.
GABRIEL: Solche Alltagsbanalitäten führen zu den
größten Auseinandersetzungen innerhalb der
Beziehung. Man müßte sich dann aber fragen, ob
nicht auf die Dauer das anfänglich
überschwengliche Liebesgefühl dadurch so sehr
abgenutzt wird, daß am Ende nichts mehr
übrigbleibt außer einer Beziehung ohne Bodensatz,
ohne Essenz.
HECTOR: Die Entscheidung, Tisch und Bett zu
teilen, muß nicht immer aufgrund der anfänglichen
Leidenschaft getroffen werden. Es gibt durchaus
auch andere Gründe, die sich im Laufe der Zeit
herauskristallisiert haben: eine starke Zuneigung,
der Wille zur Treue oder gemeinsame Arbeit und
Interessen. Darin drückt sich in erster Linie der
Wunsch aus, einen ganz normalen Alltag mit dem
anderen zu teilen. Und dazu bedarf es auch eines
gewissen Harmoniebedürfnisses. Ohne den Willen
dazu wäre der Alltag nicht zu bewältigen: ein
wahres Chaos.
SALOME: Harmonie war für mich immer
gleichbedeutend mit Tod. Liebe stellt nie
zufrieden, doch diese Unvollständigkeit gehört zum
Wesen der Liebe.
LUCIA: Ich weiß auch nicht, ob ein harmonischer
Alltag unbedingt wünschenswert ist. Ich wahre
lieber ein bißchen Ungewißheit. Das sanfte
Dahinplätschern muß ab und zu durch den großen
Knall aufgewühlt werden.
JUDITH: Das, was mir Angst einflößt, ist jede Art
von Routine. Ob in den alltäglichen Dingen, die zu
verrichten sind oder in den Gesprächen mit dem
Partner. Wenn jeder weiß, was der andere denkt und
sagt, reduzieren sich die Gespräche auf bloße
Phrasendrescherei. Daraus entstehen die größten
Mißverständnisse, da jeder denkt, er wüßte, was
der andere sagen will. Dabei entgeht einem fast
alles vom Partner. Und am Ende wundert man sich,
daß der andere nicht so gehandelt hat, wie man es
vorausgesagt hat: Er hat es wirklich
fertiggebracht zu gehen.
JAN: Hector wollte auf etwas anderes als auf
Routine hinaus, als er eben von Harmonie sprach.
Er meint, daß man nicht ständig alles hinterfragen
kann. Enweder du kommst zu dem Punkt, an dem du
ein Grundgefühl von Sicherheit und Ruhe in der
Beziehung erreicht hast, das wäre mein Ideal, oder
du bist nur damit beschäftigt, alles immer wieder
zur Disposition zu stellen. Nach dem Motto: Alles
ist offen. Das wäre der Horror!
SALOME: Trotzdem glaube ich, daß das
Harmoniedenken reine Illusion ist. Niemand weiß
wirklich, ob es am nächsten Tag so weitergeht wie
bisher. Die meisten Männer verwechseln Liebe mit
Sicherheit, das ist ihr Harmoniewahn. Sobald die
Liebe sich in Richtung Harmonie entwickelt, haben
die Frauen Angst, daß es keine Liebe mehr ist,
sondern nur noch Gewohnheit. Männer fühlen sich am
wohlsten, wenn sie sicher und geborgen sind wie in
Mutters Schoß.
HECTOR: Das stimmt einfach nicht. Sicherheit
bedeutet nicht, sich seiner Frau und all dessen
sicher zu sein, was zum klassischen
Rollenverständnis gehört: Treue, Weiblichkeit,
Anpassungsfähigkeit an die männlichen Ansprüche,
Hausarbeiten, Kindererziehung. Sicherheit bedeutet
vor allem, sich selbst, gerade als Mann, frei
bewegen zu können. Wie groß ist vor allem am
Anfang der Beziehung die Scham des Mannes, sich
nackt zu zeigen. Permanent begleitet einen das
Gefühl, die andere könnte ein Körperteil als
Mangel empfinden. Bevor du aus dem Bad kommst,
ziehst du schnell noch wenigstens die Unterhose
an, um nicht ganz nackt vor ihr zu stehen. Denn es
quält dich dieses Unbehagen, du könntest in dieser
völligen Entblößung etwas Lächerliches an dir
haben. Und sie tut so, als würde sie dich in
deinem halbnackten Zustand nicht sehen und schaut
aus dem Fenster. Ein Jahr später hat sich das
verändert. Du kannst plötzlich nackt vor ihr in
der Küche stehen, ohne dich deiner Habseligkeiten
zu schämen, und sie schaut dich prüfend von oben
bis unten an und sagt: "Ein paar Pfunde kannst du
dir ruhig abtrainieren." Das verstehe ich unter
Sicherheit.
CHARLOTTE: Unsinn! Was du gerade geschildert hast,
ist der Anfang vom Ende. Eine solche Sicherheit
schlägt doch ins Gegenteil um. Zu Beginn wird sie
ihm noch lächelnd raten, ein wenig abzunehmen. Da
er sich dazu vor lauter Sicherheitsgefühl aber gar
nicht aufschwingen wird, baut sie allmählich
Ekelgefühle gegenüber seiner äußeren Erscheinung
auf. Nach einem Jahr wird sie ihm die Hosennähte
auftrennen und die Naht erweitern, damit der Bauch
Platz findet. Ein weiteres Jahr später wird ihr
die Nadel wie zufällig ausrutschen, und dann
spätestens weiß er, daß er den Sicherheitsgurt
abschnallen muß. Jetzt beginnt das offene Gefecht,
und alle Harmonie ist wie weggefegt.
HECTOR: Das Essen ist in einer Beziehung
essentiell. Bei Brot, Käse und Wein blüht die
Romantik.
REBECCA: Ich sehe alles vor mir: den weiß
gedeckten Tisch, zwei rote brennende Kerzen,
schöne Servietten, all diese kleinen
Kinkerlitzchen, die die Romantik erhöhen sollen.
Dann geht der erste Schuß Rotwein über die Decke,
im Stillen wird mir wohler, ich sehe das Wachs
tropfen, dicke Fettaugen liegen auf der heißen
Suppe. Er säuselt die Worte vom "schönen, nein
wunderschönen Abend", dann sehe ich wieder auf
seinen Teller, sehe ihn in das Fleisch schneiden,
tiefer und tiefer sinkt das Messer ein, er führt
es zum Mund, das Mahlen der Zähne in dem toten
Tier. Er sucht die feinen Themen, er ißt mit
Tischsitten. Ich stehe auf, dabei stürzt das
Rotweinglas vollends um. Die Tür knallt zu, Schluß
mit dem "schönen, nein wunderschönen Abend"! Kurz
gesagt: Die Ketchup-Flasche ist für mich bei allen
Mahlzeiten unabdingbares Kriterium einer
gelingenden Beziehung.
GABRIEL: Dürfen wir das als Generalangriff auf
alle Versuche betrachten, den Beziehungsalltag
ästhetisch zu verfeinern?
REBECCA: Sagen wir es einfach salopp: "Das geht
mir ein bißchen ab." Hinter dem Bild der
romantisch hergerichteten Essenstafel sehe ich
sehr rasch das heimliche 'Fressen und
Gefressen-werden.' Aber darauf brauchen wir jetzt
nicht weiter einzugehen.
GABRIEL: Wir können jetzt vielleicht fragen, wie
es mit der Verdauung des Festessens aussieht. Ich
meine den gesamten Verdauungsapparat, der die
Intimsphäre des einzelnen betrifft. Könnte man
nicht sagen, daß, wenn man sich in diesem Bereich
dem anderen gegenüber öffnet, die Beziehung sich
in entscheidender Weise festigt?
SALOME: Dazu möchte ich nichts sagen. Doch
Vertrautheit in Fragen der Verdauung, also im
Nichtsexuellen-Intimen, ist ein ebenso wichtiger
Punkt wie die im sexuellen Umgang miteinander.
GABRIEL: Der Bereich ist ein exquisit vertrauter
und in der Regel nicht sexuell besetzt.
SALOME: Mit fünfzehn sah ich, wie der damalige
Mann meiner Träume auf die Toilette ging. Es war
ein Schock. Ich wußte zwar, daß die Natur die
Märchenprinzen nicht von physiologischen
Notwendigkeiten ausnimmt, doch der Gedanke daran
war abscheulich. Als die Klotür wieder aufging,
war meine erste Jugendliebe zu Ende.
AARON: Ich lasse die Tür gern offen, wenn ich dort
sitze. Da eine Sichtlinie zwischen Klo und Küche
besteht, sitze ich sozusagen am Frühstückstisch.
Ich will sehen, das fördert unsere Unterhaltung.
Ich sitze sehr lange und sehr gern.
REBECCA: Es gibt immer viel zu lesen auf Aarons
Klo.
AARON: Bei einem Freund stand dort früher "Die
Welt als Wille und Vorstellung".
CHARLOTTE: Da hätte ich Verdauungsschwierigkeiten.
Das Klo muß ein lektürefreier Ort bleiben. Mich
widert diese Klostilisierung an. Manche hängen
sich sogar Kunstwerke auf.
HECTOR: Die Toilette ist der Ort, an dem ich
frühmorgens meine besten Ideen habe; deswegen
möchte ich von niemandem dort gestört werden. Das
ist meine absolute Intimsphäre – eine Brutstätte
des Geistes. Das Klo sollte der Raum der
Imagination sein. Wenn ich dort meine Ideen
ausgebrütet habe, kann ich mich sofort an den
Schreibtisch setzen und schreiben. Das hat
sicherlich etwas mit der körperlichen Entleerung
zu tun. Je mehr Platz im Körper geschaffen wird...
ARTHUR: ...desto mehr werden die Gedanken aus
deinem Körper in deinen Kopf getrieben. Wenn
gewisse Dinge fallen, fällt der Groschen.
HECTOR: Genau. Wenn ich dasitze, fange ich an zu
denken. Es muß etwas mit der stofflichen
Entleerung zu tun haben, daß sich im Gehirn
Energien bilden, die sich zu Ideen und Gedanken
zusammenfügen.
AARON: Ja, eindeutig. Dasitzen und denken, und
dann aufstehen und an den Computer gehen.
CHARLOTTE: In meiner Familie war noch nicht einmal
das Klo ein privater Raum. Das Badezimmer wurde
stilisiert, es war der Raum, über dessen
Einrichtung am meisten nachgedacht wurde. Dort und
in der Küche hat man sich am häufigsten
aufgehalten. Wenn Feste waren, saßen alle im
Bad...
HECTOR: Wenn sich bei mir dieses Muß-Gefühl
einstellt, werde ich aus Denkzwängen
herausgerissen. Das hat etwas Erlösendes, denn die
Sprache, in die ich beim Schreiben hineingedrängt
werde, verfremdet immer, was ich sagen will, und
erst im Klo habe ich Freiheiten zu neuen Gedanken.
ARTHUR: Ich bin für abgeschlossene Toiletten und
Badezimmertüren. Wichtig ist, daß Vertrautheit
entsteht, daß man sich verhalten kann, wie man
will, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Hier
entsteht das Gefühl von Sicherheit.
LUCIA: Sich im Badezimmer nackt zu sehen, ein und
aus zu gehen, wenn der andere sich gerade darin
aufhält, das war für mich immer eine
Selbstverständlichkeit. Meine Intimsphäre wird
nicht mit der Badezimmertür aufgebrochen.
CHARLOTTE: Sie würde allenfalls aufgebrochen,
wollte man hier versuchen zu beschreiben, was sich
hinter dem Schleier verbirgt, den man um sich
herum zu ziehen gewählt hat, um so etwas wie eine
Intimsphäre zu errichten.
SALOME: Darum kann es nicht gehen. Trotz aller
Plauderei bleibt ein verschwiegener Rest um die
Scham, die Nacktheit. Ich finde dieses Bedürfnis
nach einer Intimsphäre – und auch seine
autoerotische Komponente – sehr schön. Ein Mann,
der dort wie ein Elefant in den Porzellanladen
einbricht, hätte bei mir keine Chancen.
ARTHUR: Das Bedürfnis, seine eigene Nackheit in
ein Geheimnis zu verhüllen, ist in eine
feinsinnige Dialektik von Verbergung und
Enthüllung verwoben. Es bildet die unterirdische
Antriebskraft für das Begehren. Wenn sich die
Partner nach der stürmischen Phase des Anfangs auf
dieses Spiel nicht mehr einlassen, führt der Weg
zwangsläufig in die Abstumpfung.
CHARLOTTE: Spiel hin, Spannung her. Darum geht es
hier nicht. Meine Nacktheit hat für mich eine
andere Qualität als für meinen Partner. Der Blick,
den ich auf meinen Körper richte, hat nichts mit
dem Blick des anderen zu tun. Es gibt Momente, in
denen ich mich ganz allein anschauen möchte, und
dann weiß ich, daß mich kein anderer je erreichen
könnte. Ich verschwinde, entziehe mich dem Zugriff
des anderen, werde für ihn zu Luft und für mich
selbst zu Erde...
LUCIA: Das sind die Augenblicke, in denen ich
unteilbar bin: Ich teile nicht mit ihm Tisch,
nicht Bett, ich teile ihm nichts mit, ich verteile
nichts, sondern ich stehe vor mir in meiner ganzen
Kreatürlichkeit, führe die Handinnenseiten an
meinem Körper entlang und fühle, daß ich es bin;
weit weg von dem, was ich bin, wenn ich die Tür
wieder öffne, was ich für ihn bin. Es ist das
staunende Schweigen beim Anblick des eigenen
Gesichtes, der mir sagt: Du bist es wirklich, in
allen Fältelungen deiner Haut, gänzlich unabhängig
von der draußen auf dich wartenden Realität.
Bisweilen zögere ich einen Moment noch, die
Badezimmertür wieder aufzuschließen.
SALOME: Diese wartende Realität kenne ich gut.
Mein Partner verfolgte mich in jungen Jahren bis
vor die Toilettentür, weil er sich nach mir
sehnte.
ARTHUR: Das hört sich sehr nach Klammern an. Ich
würde mit Aggressionen reagieren, wenn man
versuchen würde, mich ständig hinter sich
herzuziehen. Da halte ich es mehr mit der Devise,
sich seine Partnerin ein wenig auf Distanz zu
halten.
REBECCA: Wenn ich fühle, vom anderen bedrängt oder
eingeengt zu werden, will ich mir Freiräume
erkämpfen. Dann überlegt man sich, bewußt Pläne zu
schmieden, an denen der Partner nicht teilnimmt.
Oder man schafft sich Kriegsschauplätze, in denen
all die kleinen Aggressionen, die sich tagtäglich
aufstauen, abreagiert werden.
JAN: Ja, man benutzt den anderen als Vehikel, um
bestimmte Aggressionen zu steigern und dann
aufzulösen. Ich stelle mir vor, ich komme nach
Hause, und sie ist mit dem Staubsauger
unterwegs...
CHARLOTTE: Solange sie nur mit dem Staubsauger
unterwegs ist...
JAN: ...und schon beginnt der Konflikt von neuem:
Wie sauber muß es zu Hause aussehen? Aber die
Frage nach der Sauberkeit im Haus steht nur
stellvertretend für all die kleinen Konflikte, die
kollektiv entladen werden.
LUCIA: Wenn du mich wegen meines Staubsaugerwahns
anmachst, verschaffst du dir Luft wegen anderer
Probleme. Du weißt natürlich, wie ich darauf
reagiere, das läuft ja alles vollautomatisch ab.
Ich motze zurück, frage mich aber gleichzeitig
selbstzweifelnd, warum ich diese zehn Minuten
meines kurzen Lebens tatsächlich wieder mit diesem
stumpfsinnigen Saugen verbracht habe. Ich befinde
mich, ohne daß ich es wollte, plötzlich in einem
doppelten Konflikt: Einmal mit dem Mann, der mein
Tun aus von mir unabhängigen Gründen in Frage
stellt, dann aber auch mit mir selbst, da ich mich
durch den Streit selbst ertappt fühle. Denn es
könnte sein, daß ich mit dem Saugen meine Zeit
sinnlos verschwende und mehr noch: Daß ich einen
krankhaften Sauberkeitsfimmel habe. In solchen
banalen Alltagssituationen steht die Beziehung
urplötzlich auf dem Spiel. Ich habe das Gefühl, im
nächsten Moment zu explodieren und damit alles
aufzulösen.
GABRIEL: Das ist der Einbruch des radikal
Disharmonischen in die funktionierende
Zweierbeziehung. Dem ist nicht vorzubeugen.
SALOME: Der Staubsauger ist ein wichtiges Element
in der Partnerschaft. Ich habe immer Todeswünsche
beim Staubsaugen. Früher bin ich mit einem Stuhl
oder einem Gegenstand auf den anderen losgegangen.
Heute sauge ich Staub, um die Todeswünsche
auszutreiben. Medea bestraft Jason, indem sie die
Kinder tötet, die sie mit ihm gezeugt hat. Kinder
habe ich keine. Also sauge ich alle Geldstücke
auf, die aus seinen Taschen fallen.
GABRIEL: Da bin ich weiblicher als du. Ich liebe
es, Staub zu saugen. Es ist ein wollüstiger Akt.
Man muß nicht einmal sehen, was man wegsaugt, es
ist eine Frage der Empfängnis.
JAN: Es muß knistern und knacken, sonst stelle ich
mir die große Saug-Sinn-Frage.
JUDITH: Staubsaugen, kochen, Zahnpastatuben...
Sind es denn die Banalitäten, an denen man sich
zerstreitet, oder stecken tiefere Zerwürfnisse
dahinter?
CHARLOTTE: Natürlich ist es leichter, sich wegen
der Zahnpastatube zu streiten, als die Dinge beim
Namen zu nennen. Eigentlich weiß jeder, daß es
nicht wirklich um den falsch gekochten Reis geht,
sondern um versteckte Konflikte.
REBECCA: Man kann solche tieferen Zerwürfnisse
vermeiden, indem man von Anfang an seinen
persönlichen Raum sichert. Es ist sehr wichtig,
Distanz zu halten, zum Beispiel eigene Freunde zu
haben oder ein eigenes Bett.
JUDITH: Ich finde es vorteilhafter, kein eigenes
Bett zu haben, so können wir einen Streit nie über
Nacht ausdehnen. Vor dem Einschlafen muß jeder
sagen, was los ist, dann kann man sich wieder
versöhnen. Sonst würde alles vor sich hingären,
jeder würde sich unendlich in den banalen Streit
hineinsteigern, und alles würde nur noch schlimmer
werden.
GABRIEL: Eine andere Möglichkeit der
Konfliktbeseitigung wäre, die Tür hinter sich
zuzuknallen und für ein paar Stunden oder Tage
wegzubleiben. Das hätte wahrhaft kathartische
Wirkung.
JAN: Du meinst das Knallen der Tür als
Abführmittel?
AARON: Und wenn es nicht wirkt?
HECTOR: Dann muß man andere Maßnahmen ergreifen,
um die Harmonie wiederherzustellen.
HECTOR: Ich versöhne mich am besten mit mir und
der Welt, wenn ich mir ein Ei koche. Wenn ich den
Eierkocher aus dem Schrank hole, geschieht schon
ein hermeneutischer Vorgriff: Du weißt, was in den
fünf Minuten passiert, in denen das Ei brütet. Ist
es fertig, stellst du es in den Eierbecher,
schlägst den Kopf ab und siehst vollkommen
zufrieden: Der Dotter ist wieder gelb. Richtige
Kochzeit, richtige Konsistenz.
REBECCA: Ja, und was sagt deine Freundin?
HECTOR: Die möchte ich nicht zur gemeinsamen
Ei-Harmonie zwingen.
JAN: Von Ei zu Ei entsteht der perfekte Mythos. Im
gemeinsamen Erinnern beschwören wir die Geschichte
der Beziehung: Auf diese wunderbare Weise sind wir
entstanden, das ist unser Ursprung, die Kette von
Zufällen, die keine sind. Jedes Detail wird
rückblickend interpretiert, alles ist ein Omen,
alles hat eine Bedeutung. In allem war das
Kommende angedeutet und festgelegt.
ARTHUR: Die Geschichte, die man gemeinsam hat,
wird zu der Geschichte überhaupt. Als Beschwörung
der eigenen Liebe, ihrer Besonderheit und ihrer
Endgültigkeit wird sie unendlich erzählt. Man
rekonstruiert sie und entdeckt immer Neues, was zu
ihr gehört. Sie wird immer länger, greift immer
weiter zurück in die Vergangenheit. Irgendwann
beginnst du die Geschichte ein halbes Jahr früher,
an dem Tag nämlich, an dem du zufällig und eher
widerwillig mit einem Kollegen einen Kaffee
getrunken hast, der dich auf die Party einlädt, wo
du den Bruder deiner jetzigen Freundin triffst...
REBECCA: Wunderbar. Am Ende liest du dein ganzes
Leben neu, auf diese Begegnung hin, auf diesen
einen Menschen.
ARTHUR: Du machst die Liebe zu einer Geschichte.
Du setzt sie ab von dem, was sonst geschieht, dem
Zufall, dem Zerstreuten. Daraus erhält alles
seinen restlosen Sinn.
GABRIEL: Aber was geschieht, wenn ein Paar aus der
großen Verliebtheit erwacht und die Geschichte
plötzlich Risse bekommt?
REBECCA: Du meinst den tragischen Punkt, an dem
der andere plötzlich unwirklich wird, seine
Anwesenheit hinter seiner Fassade verschwindet und
sein Körper jede Festigkeit verliert. Selbst
vertraute Dinge kommen mir dann seltsam vor. In
mir erstreckt sich eine endlose Wüste: die totale
Entfremdung.
SALOME: Plötzlich beginnt die Wunde, die die Liebe
stillte, von neuem zu bluten.
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