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10. Verliebtheit

Autoren
Aaron
Arthur
Charlotte
Gabriel
Hector
Jan
Judith
Lucia
Rebecca
Salome



Kapitel 4

Phantasien

Laß mich dein Archäopterix sein

HECTOR: Neulich saßen wir zusammen auf einer steilen Felsenklippe. Tief unten schäumten die Wellen des Meeres gegen die zerklüfteten Felsen. Wir saßen nicht nebeneinander, sondern hintereinander. Plötzlich stellte ich mir vor, daß sie mir von hinten einen Stoß verpaßt. Ich sah mich stürzen, rauschhaft in die Tiefe des Wassers hinunter, ohne Halt. Mein letzter Gedanke: das Nichts. Ich steigerte mich so sehr in diese Phantasie hinein, daß ich schließlich fürchtete, sie könnte es jeden Augenblick tun. Ein paar Tage später erzählte sie mir, daß sie eben diese Phantasie tatsächlich gehabt hatte.

ARTHUR: Du glaubst doch nicht, daß deine Freundin Mordphantasien hat?

GABRIEL: Nicht unbedingt eine Mordphantasie. Sie will nur wissen, ob er sterblich ist.

REBECCA: Solche Phantasien sind mir nicht fremd. Aus einer früheren Beziehung kenne ich die andere Seite. Wir arbeiteten zusammen in unserem Gemüsegarten, ich lockerte den Boden mit einer dreizackigen Hacke auf, und plötzlich überkam mich die Vorstellung, ihm damit den Kopf einzuschlagen. Dieser Gedanke wurde so überwältigend, daß ich die Hacke ganz schnell aus der Hand legte. Damit ist unsere Kleingartenidylle auf den Punkt gebracht.

GABRIEL: Das Reich der Phantasie kennt keine Grenzen. Das geht sogar bis zur Vorstellung der Auslöschung des anderen. Der Mörder ist immer die Gärtnerin.

CHARLOTTE: Ich kenne auch den Gedanken der Auslöschung, aber in der Form der Selbstauslöschung. Deswegen hat mich der Film Der Mann der Friseuse fasziniert. Ich habe mich mit der weiblichen Hauptdarstellerin identifiziert. Auf dem Höhepunkt der Liebe zu ihrem Mann begeht sie Selbstmord.

AARON: Das ist ein sehr romantisches Motiv. Zu Romantik und Tod fällt mir ein Gedicht von Baudelaire ein, das ich unzählige Male gelesen habe. Es enthält all das, was ich unter dem Stichwort Phantasie verstehe:

LUCIA: Gleichwohl erregt es auch meine Phantasie. Es schlägt dich wie ein Blitz aus heiterem Himmel, wenn plötzlich ein schöner dunkler Mann vor dir steht und du dir ausmalst, mit ihm ein Wochenende im Hotel zu verbringen, 48 Stunden lang nur mit ihm im Bett zu liegen, ohne ihn kennenlernen zu wollen. Er ist der Unbekannte, und soll es auch bleiben. Ich weiß nicht, woher er kommt, was er macht, das zählt alles nicht. Es geht nur um das Ausleben der sexuellen Leidenschaft. Mein Kopf ist in diesem Moment vielleicht ganz dumpf, er ist ausgeschaltet, nur das, was darunter ist, vibriert, und mein Körper zerreißt vor Spannung.

CHARLOTTE: Ich könnte mir das so nicht vorstellen. Mit einem Mann, den ich überhaupt nicht kenne. Unmöglich!

ARTHUR: Ich kenne das schon. Am meisten interessieren mich diese Black Boxes in Amerika, dunkle Räume, in die du hineingehst und in die andere hineingehen. AIDS hat diese schöne Idee leider zunichte gemacht.

GABRIEL: Mit wildfremden Personen stellt ihr euch das vor?

ARTHUR: Es gibt natürlich Spielregeln. Man darf zum Beispiel keine persönlichen Fragen stellen.

SALOME: Lucia hat eine starke männliche Komponente. Die Phantasie, Grenzen im dunklen Raum zu sprengen, kenne ich eher von Männern. Sie fühlen sich im unpersönlichen Dunkel des Instinkts beruhigt, von der Last ihrer festgelegten Identität befreit. In der Anonymität halten sie sich in einem undifferenzierten Leben und in der Erinnerung ihrer gesichtslosen Vergangenheit auf, als sie noch eins mit ihrer Mutter waren.

CHARLOTTE: Das blitzartige Auftauchen eines Fremden reicht nicht. Ich stelle mir vor, jemanden kennenzulernen und mit ihm eine Freundschaft zu schließen. Plötzlich verliebe ich mich in ihn, aber dieses Gefühl wird niemals Realität. So wie in Casablanca. Beide wissen, daß sie sich lieben und dennoch niemals zusammenkommen werden. Die Liebe wird bewahrt, weil der Alltag sie nicht beschmutzt.

JUDITH: Dabei hat Liebe viel mit Alltag zu tun. Dann gäbe es für dich Liebe ausschließlich in der Phantasie, und dort unten, in der Beziehung mit dem Partner, wäre der graue Alltag.

CHARLOTTE: Das darf man nicht miteinander vergleichen. Phantasien sind mein ganz eigenes, sie sind notwendig zur Entfaltung meiner Persönlichkeit. Die Liebe zu meinem Partner steht über ihnen. Sie besitzt einen unantastbaren Wert.

JUDITH: Wenn ich mir in Gedanken den Alltag ausmale, mir vorstelle, nicht mehr nur mit meinem Freund allein zu sein, sondern noch jemanden zu haben, so einen kleinen Matz, der ständig nur nach Essen schreit und in die Hose pinkelt... Neulich habe ich geträumt, meinem Freund ein Kind zu machen.

REBECCA: Diese Phantasien habe ich dauernd. Ich will ihn schwanger machen, und wenn ich ihm das erzähle, wird er ganz bleich im Gesicht und fragt ratlos, wie ich das denn meine, woraufhin ich ihn nur vielsagend anlächele.

ARTHUR: Das ist nicht fair. Jetzt interessiert mich aber auch, was du damit meinst. Stellst du dir vor, daß ihr die Rollen tauschen könntet, daß du plötzlich der Mann bist? Aber wie machst du das dann im Bett beim Sex? Da finden doch deine Vorstellungen vom Tausch der Geschlechtsidentität reale Grenzen. Den Penis hat schließlich er und nicht du.

SALOME: Du mußt das als Metapher verstehen. Die Geschlechter nähern sich einander an, vermischen sich, sie werden androgyn. Es ist eine Inszenierung der Geschlechtsrollen, die sich untereinander vertauschen können. Rebecca ist im Trend, das siehst du in sehr vielen Video-Clips und in der Werbung. Die Schwulen in Italien haben das immer schon inszeniert. Der griechische Uranuskult, der noch nach dem Zweiten Weltkrieg in Neapel von den Transvestiten praktiziert wurde, imitiert den Akt des Gebärens.

JAN: Das wird mir jetzt zu bunt. Meine Phantasien sind anderer Art. Wenn ich an die Frau im Gedicht denke, wie die Art ihres Ganges beschrieben wird, der Blick auf das Gehen und ihre Beine gelenkt wird, dann möchte man ihr am liebsten direkt folgen, die Blicke magisch von diesen langen Beinen und Strümpfen angezogen. In solchen Situationen weißt du nicht mehr, was du tust. Du hast das Gefühl, deine Hände und Beine werden ganz saumig, es ist ein Kribbeln in all deinen Gliedern, noch nicht einmal das Gefühl, im Vollbesitz deiner tierischen Kräfte zu sein, sondern einfach nur dieses Gezogenwerden. Das Unausweichliche, der Bodenkontakt, der deine Füße beim Gehen schwerer und schwerer werden läßt angesichts des lockenden Schritts. Du siehst durch deine im Wahn getrübten Augen den glatten Rücken, die langen, dunkel herunterfallenden Haare. Du wartest darauf, daß sie sich im nächsten Augenblick zu dir umdreht, um das Erkennungssignal zu geben und hast gleichzeitig panische Angst davor. Lieber ihr weiter folgen, nicht, noch nicht die Entscheidung suchen, bis sie in einem der vielen Türeingänge der Straße verschwindet.

HECTOR: Was fasziniert dich an Beinen? Sind das auch die Strümpfe und die Schuhe mit den spitzen Absätzen?

JAN: Nicht nur Strümpfe, sondern insgesamt Dessous erregen meine Phantasie. Ob sie nun schwarz und sportlich sind oder elegante Spitzenbustiers.

JUDITH: Das ist wieder eine typische Männerphantasie. Ich würde nie Dessous für einen Mann tragen. Wenn einer das von mir wollte, würde ich ihn davonjagen. Ich hatte glücklicherweise immer Freunde, die darauf keinen Wert gelegt haben.

SALOME: Man kann sich natürlich für sich selbst anziehen. Das ist dann eine Form der Autoerotik.

HECTOR: Worüber man nicht reden will, darüber sollte man auch schweigen. So heißt es doch schon bei Wittgenstein.

LUCIA: In unserer Beziehung war das Thema Dessous stets virulent. Ich fand das völlig albern. Eines Morgens haben wir dann doch beschlossen, daß ich mir welche kaufe. Ich ziehe sie also abends an, er kommt zur Schlafzimmertür herein, sieht mich in voller Montur und lacht schallend los. Schließlich hatten wir beide einen Lachkrampf, und danach war das Thema Dessous vom Tisch. Beim Fremdgehen hingegen ist das noch Gegenstand der Phantasie

HECTOR: Sich Frauen in Dessous vorzustellen, hat etwas mit Lustgewinn zu tun. Dessous bedecken, was sie im Grunde um so mehr hervorheben. Gerade Spitzenwäsche, die sich an den Körper schmiegt, offenbart in der Verhüllung das Geheimnis der Frau. Es ist ein Changieren zwischen der Begierde, auch noch die letzte Hülle vom Leib zu reißen, und dem Wunsch, durch die Berührung des Dessous den weiblichen Körper zwar zu spüren und dennoch in der Unsichtbarkeit zu lassen.

ARTHUR: Strümpfe und Strumpfhalter haben noch eine andere Bedeutung: Sie unterstreichen die Länge der Beine. Angefangen von den hohen Absätzen der Schuhe bilden sie eine Gerade bis hoch hinauf zum Slip. Darin liegt die Vorstellung des schmalen, langen Stiels, die Hauptquelle aller Lust.

REBECCA: Das ist Eis am Stiel.

LUCIA: Wie ist das mit den Frauenphantasien? Wenn Männer auf Dessous abfahren, worauf fahren Frauen ab? Was sind die Äquivalente?

JUDITH: Kleidung ist es jedenfalls nicht. Es ist der nackte Körper.

LUCIA: Für mich auch. Der nackte Körper mit unterschiedlichen Attributen. Es gibt ja verschiedene Arten von nackten Körpern.

SALOME: Ja, ja, das ist eben das umgekehrte Klischee: Der richtige Mann nackt und die Frau in Reizwäsche. Ich bin da sehr zwiespältig. Die Designer von Männerunterwäsche achten auf Sexappeal, doch leider verwenden die meisten Männer wenig Zeit und Sorgfalt auf ihr Äußeres. Einige Bodysuite sind doch ausgesprochen erotisch. Und lange Unterhosen hat sogar James Dean getragen. Die Dessous machen den Mann unantastbar. Trotzdem trage ich keine Reizwäsche. Mieder, Strapse... Solche Accessoires verbinde ich nach wie vor mit Unterwürfigkeit und Selbstzucht.

REBECCA: Mir hat das immer widerstrebt, Reizwäsche anzuziehen. Ich würde mich dann so ausgestellt fühlen. Und dabei wollte ich nie gesehen werden. Bei Männern achte ich überhaupt nicht darauf. Ich könnte keine Unterwäsche beschreiben.

ARTHUR: Dann ist dir etwas Wesentliches am Mann entgangen. Wahrscheinlich achtest du mehr darauf, wie ein Mann dir allein mit Worten den Himmel auf Erden bereitet.

REBECCA: Ja, das hat sicher etwas mit meiner Geschichte zu tun. Bestimmte körperliche Regungen und Geräusche kann ich bei einem Mann nicht ertragen, wenn er zum Beispiel beim Essen schnauft und schlürft oder wenn er schnarcht und gluckst. Da könnte ich ausrasten. Diese Überempfindlichkeit und Vergewaltigungsphantasien – ich meine das Vergewaltigtwerden – hängen zusammen... Aber was du sagst, stimmt schon. Die Phantasie in die richtigen Worte zu kleiden, die nicht so abstrakt sind, also Bilder zu finden für die Liebe, das ist mir wichtig.

AARON: Das mit den Geräuschen verstehe ich, aber welche Bilder meinst du? Ich finde, es ist schwerer geworden, Bilder zu finden. Entweder beziehen sich die Phantasien auf Sexuelles, und dann hat man nur ein bestimmtes Repertoire zur Verfügung, oder die Bilder, die man benutzen möchte, sind bereits abgegriffene Muster, die zu Klischees erstarrt sind. Es ist wirklich schwer, über all das zu reden. Und wenn man es tut, besteht die Gefahr, das eigene Geheimnis zu zerreden. Nichts bleibt dann von der Aura, von der Poesie, die einem sich in Bildern aufdrängt. Manchmal stelle ich mir vor, gar nicht reden zu müssen, sondern einfach den Austausch der Blicke zu genießen. Oder auch den Genuß durch Essen und Trinken zu intensivieren.

HECTOR: Essen und das Trinken gehören unbedingt dazu.

GABRIEL: Du meinst zur Erotik?

HECTOR: Ja, zu den erotischen Phantasien. Man kann sich doch vorstellen, daß sich über Naturalien Assoziationsketten bilden, die sich nicht mehr eindeutig einem bestimmten Bedeutungsfeld zuordnen lassen.

GABRIEL: Und was hat das mit Sexualität zu tun?

HECTOR: Stell' dir vor, du hast Lust oder Vorlust. Du willst kurz vorher noch etwas essen, greifst in der Küche deiner Freundin in den Backofen hinein und stehst plötzlich vor einem verschimmelten Etwas, was früher einmal ein Brot war. Du schmeißt es weg, regst dich fürchterlich – künstlich – darüber auf und machst deiner Freundin Vorwürfe, daß sie ständig dieses verschimmelte Zeug bei sich herumliegen läßt. Aber danach, was ist dann? Du hast deine Vorlust ja nicht gezügelt. Und vielleicht ist genau dieses verschimmelte Etwas plötzlich der zündende Funken, um alles in Gang zu setzen, um das Weitere assoziativ zu verfolgen. Du hast den Geruch in der Nase, – oder du erzeugst ihn zumindest in deiner Phantasie –, hast eine bestimmte Gewebestruktur vor den Augen und dann den Körper vor dir. Wunderbar! Da fängst du doch an zu grunzen, zu bellen. Du machst den Wahnsinn mit.

ARTHUR: Wie stellst du dir denn den Körper einer Frau vor?

REBECCA: Mit Schimmelpilzen.

ARTHUR: Sehr nekrophil.

HECTOR: Es gibt da noch die andere Metaphernkette. Graf Tilli, der Kater von nebenan, sitzt am Fenster. Er will herein. Ich weiß genau, was er will: Milch! Dann kommt er hereingesprungen, ganz geil, meine Freundin spurt natürlich sofort, holt ein Tellerchen heraus, gießt Milch darauf, frische, flüssige Milch...

ARTHUR: Warum betonst du das so?

HECTOR: ...stellt sie auf den Boden. Die Katze leckt fünfmal daran, ist begeistert und springt wieder aus dem Fenster heraus. Und was passiert indessen? Die Milch steht wochenlang auf dem Boden, und sie gerinnt langsam, wird fest. Welche Assoziationen einem da kommen können in bezug auf Sexualität, ist doch unvorstellbar.

REBECCA: Hast du Angst, daß du irgendwo gerinnst?

ARTHUR: Wenn man dich stehen läßt?

AARON: Du meinst, wenn man dich fünf Wochen stehen läßt, gerinnst du?

HECTOR: Habt ihr noch nie solche Assoziationen gehabt?

ARTHUR: Das waren ja zwei Assoziationen, einmal Schimmel und Sex und einmal Verwesung und Sex.

HECTOR: Nein, Gerinnung und Sex.

ARTHUR: Der Inbegriff des Höchsten wäre also eine Frau gebettet in Schleim und Schimmel.

HECTOR: Ist denn nicht der Mann derjenige – ich stelle einmal Spekulationen an –, der die Flüssigkeit in Gang halten will, der Angst vor Gerinnung hat, vor dem Festwerden? Ich habe diese Vorstellung schon einmal gehabt.

GABRIEL: Daß alles gerinnt?

HECTOR: Ja, und zwar in mir.

LUCIA: Statt dessen gerinnt der Samen in der Frau.

GABRIEL: Aber sie kann ihn sammeln und zu Hybridkindern zusammenphantasieren, während der Mann seinen Samen ausstreut, ihn sozusagen verschleudert und immer wieder neuen produziert. Eine Tonne Samen in dreißig Jahren täglicher Männerfron.

ARTHUR: Da gibt es nichts zu bewahren, höchstens im Kopf, in der intellektuellen Verarbeitung der eigenen Geschichte, nicht aber im Unterleib.

HECTOR: Männer können das vielleicht nur, wenn sie ihre Lebensgeschichte als Liebesgeschichte konstruieren. Da geht wohl viel von dem direkten körperlichen Empfinden, das die Frauen mit ihrer Vorstellung verbinden, verloren. Der Mann ist dann der Geist, der aus seiner Geschichte Kunst macht, und die Frau ist die Poesie.

AARON: Hat er das nicht schön gesagt?

ARTHUR: Ich möchte mich jetzt nicht auf eine solche kunstphilosophische Diskussion einlassen. Das ist doch ein wenig schematisch dahergesagt. Wir sollten lieber unsere eigenen Phantasien zu Wort kommen lassen, als über die Art und Weise zu reden, wie Männer und Frauen ihre Bettgeschichten verarbeiten. Das klappt mit der Philosophie eh nicht.

REBECCA: Aber ist die Phantasie, die eigene geistig oder körperlich bewahrte 'Liebes'-Geschichte in seine Nachkommmen hineinzulegen, nicht eine Wahlverwandschaften-Phantasie? In Goethes Roman ist es ja auch so, daß die Gedanken an den Geliebten während des Beischlafes mit dem anderen das Kind nach dem Bilde des abwesenden Geliebten formt.

CHARLOTTE: Ja, die Wahlverwandschaften. Genau das wollte ich am Anfang mit Casablanca sagen. Die, die sich wirklich lieben, wissen, daß sie niemals zusammenkommen werden. Trotzdem bewahren sie ihre Liebe vielleicht in etwas anderem. Das ist ein wunderbarer Gedanke. Allerdings kann ich jetzt nicht sagen, was das andere für mich wäre.

LUCIA: Das könnte auch ein Dritter in einer Dreiecksbeziehung sein. Es reicht auch, wenn du dir in deiner Phantasie einen Mann vorstellst, der all das, was du in deinem eigenen Partner nicht findest, verkörpert. Er ist dann natürlich nur deine Projektion, dein alter ego. Und doch hat er in deiner eigentlichen Beziehung mit deinem Freund eine manchmal unheimliche Realität. Er taucht in deinen Träumen auf, geht mit dir durchs Haus, steht plötzlich neben dir in der Küche und schaut dir über die Schultern in den Kochtopf hinein. Sagt aber nichts, schweigt und schaut dich nur an. Schaut dich und den anderen an. Und seine Blicke sind wie Reflektoren deiner eigenen gespaltenen Seele. In seinen Augen erblickst du dich selbst. Dann fängst du an, nach dem Gespenst in dir selbst zu suchen. Du suchst in allen Winkeln deiner Wohnung, deiner Aufzeichnungen und Tagebücher. Du durchsuchst die Schubladen deiner Seele, gerätst in Aufruhr und Panik, bist nicht mehr du selbst. Aber plötzlich hörst du deinen Namen aus dem Nebenzimmer rufen, und du weißt, daß du zu ihm gehörst. Er ist dein Mann, er reißt das Gespenst heraus.

GABRIEL: Ich weiß gar nicht mehr, wo wir uns nun befinden. Von wo waren wir ausgegangen? Das waren Hectors Gerinnungsphantasien und jetzt sind wir plötzlich bei den Phantasien zu dritt. Ich verstehe zwar den Sprung nicht, aber das Thema finde ich ergiebig. Gibt es weitere Phantasien zu dritt?

JUDITH: Eigentlich wäre es einmal an den Männern, etwas dazu zu sagen, denn die klassische Vorstellung ist doch die, daß ein Mann eher mit zwei Frauen im Bett liegt und nicht zwei Männer mit einer Frau.

AARON: Zumindest wird einem das ständig zum Beispiel durch Filme suggeriert. Aber ich finde die Vorstellung generell ziemlich schwierig, denn entweder wird der eine Mann oder die eine Frau bedrängt. Das muß doch zu einer heillosen Verwirrung führen, wer was bei wem zuerst macht. Außerdem ist das kein bißchen romantisch. Die Vorstellung, mit zwei Frauen im Bett zu liegen, würde mich an meine Grenzen bringen.

REBECCA: Man muß ja nicht unbedingt zu dritt im Bett liegen und sich gegenseitig erregen. Es gibt diesbezüglich auch Phantasien ganz anderer Art, zum Beispiel dich selbst durch die Herstellung eines Dreierverhältnisses zum Verschwinden zu bringen. Du betreibst damit deine eigene Auslöschung, indem du dich durch eine andere Frau an der Seite des Mannes ersetzen läßt. Du läßt dich von ihr bis auf den Atem ersetzen. Marguerite Duras schreibt das in der Verzückung des Lol V. Stein: "In dem Maße, wie der Körper der Frau dem Manne sichtbar wird, schwindet der ihre dahin, schwindet, welche Wollust, aus der Welt." Danach heißt es: "Dieses sehr verzögerte Ausziehen des Kleides von Anne-Marie Stretter, dieses sanfte Auslöschen ihrer eigenen Person, nie ist es Lol gelungen, es zu Ende zu führen." Sie schafft es nicht ganz, sich zum Verschwinden zu bringen. Aber sie hat eine nicht zu bändigende Sehnsucht, sich durch die andere, die sich vor ihm auszieht, auszulöschen. Und darin entfacht sich eine ungeheure Wollust.

GABRIEL: Mich gruselt das. Da sind doch ungeheure Omnipotenzphantasien im Spiel. Da ist eine Frau, die aus unbekannten Gründen nicht mit dem Mann zusammen sein kann, den sie liebt, die aber auch nicht von ihm loskommt. Und diese Frau phantasiert dann eine andere zwischen sich und ihn, die all das macht, was sie nicht kann. Das hört sich sehr nach Stellvertretersex an.

ARTHUR: Und es hat etwas sehr Voyeuristisches. Ich frage mich nur, wie man sich auf diese Weise auslöschen kann. Der Gedanke der Auslöschung ist mir zwar nicht fremd, aber ich stelle mir sie nicht so vermittelt vor. Eher hat das für mich etwas mit absoluter Unmittelbarkeit zu tun. Die Auslöschung, und eben auch die eigene, erfolgt mit einem Schlag. Du fällst sie oder dich selbst, wie du einen Baum fällen würdest mit dem letzten entscheidenden Schlag deines Beiles. Das hat auch etwas mit der Sexualität zu tun. Die beiden Leiber gehen aufeinander zu und rammen unter Getöse aneinander wie der Bug zweier Schiffe unter Wasser. Es ist ein dumpfes Geräusch, das dir dein eigenes Ende blitzartig vor Augen führt. Da ist dann kein Raum mehr für irgendwelche idealistischen Verschmelzungsphantasien. Da siehst du nur noch schwarz vor Augen.

JAN: Dieses Geräusch kenne ich auch.

REBECCA: Das hört sich ganz schön gewalttätig an. Aber das habe ich mit dem, was ich soeben gesagt habe, natürlich nicht gemeint.

HECTOR: Beide Phantasien, sowohl die von dir als auch von Arthur, haben etwas Gewalttätiges.

SALOME: Arthur lebt die Verschmelzungsphantasie in der körperlichen Intimität. Jede Frau wird zugeben, daß die größte Mystikerin, Theresa von Avila, den höchsten Grad von Lust in der sinnlichen Liebe wunderbar beschrieben hat.

GABRIEL: Die Männer sind karger, wenn sie ihre mystischen Zustände beschreiben. Es trifft aber zu: Im Augenblick des Orgasmus besteht eine Konfluenz, ein Einssein zwischen Mann und Frau, Individuum und Welt hören auf zu existieren.

SALOME: Ein kleiner Tod.

GABRIEL: Ja, doch in der Jugendzeit reichte mir dieser 'kleine Tod' nicht. Mein Wunsch nach Symbiose ging bis zur Todessehnsucht. Ich stellte mir vor, unser Zimmer als Gruft aus rotem Samt auszubauen, um die Außenwelt von uns abzuschirmen. In unserem Kleiderschrank hatte ich Infusionsflaschen versteckt, für den Fall, daß sie erkranken könnte. Wir waren beide darauf eingestellt, irgendwann zusammen Selbstmord zu begehen. Aber nicht nur aus meiner Angst heraus, sie zu verlieren, sondern weil der Gedanke, daß der Tod uns voneinander trennen könnte, unerträglich war. Die Verewigung unserer Liebe ließe sich am besten in der Phantasie der im Tode vereinigten Geliebten verdeutlichen.

JAN: "Wenn der Mann und die Frau zu einem einzigen Fleisch vor dem Herrn werden..."

REBECCA: Als Gottesanbeterin!

JAN: Das muß ja der Horror gewesen sein. In dieser Form habe ich noch nie irgendwelche Todeswünsche gehabt, wohl Gewaltphantasien. Ich meine damit nicht die Sado-Maso-Phantasien, von denen man momentan so viel hört und sieht, zum Beispiel diese Domina-Schuppen, in denen die Männer sich gegen Barzahlung peitschen oder den Hintern versohlen lassen. Nein, es sind eher reine Macho-Phantasien, wenn ich daran denke, sie einfach mal 'so richtig zu nehmen'.

SALOME: Das sind Bräuche aus der Steinzeit. Man nahm und hielt gefangen, was man an sich binden wollte.

HECTOR: Der tierische Instinkt ruft. Wir brauchen nur an die Pferde auf der Wiese dabei zu denken, wie der Hengst von hinten auf die Stute geht.

ARTHUR: Ja, oder daß man Stutenurin trinkt, um sich zu verjüngen und leistungsfähiger zu sein, wie es bei Hans Henny Jahnn zu lesen ist.

REBECCA: Den Anblick der Erektion beim Pferd fand ich als junges Mädchen erschreckend, Hector. Für mich gab's dafür noch kein Wort. Oder besser: Ich hatte es zwar vorher schon gehört, es jedoch nie in den Mund genommen.

GABRIEL: Und schon sind wir bei den zoophilischen Phantasien! Dürfen es auch Hunde, Katzen, Hühner und Hausschweine sein?

AARON: Wer weiß, vielleicht spielt Rebecca ihrem Freund das Huhn und läuft gackernd durch die Wohnung, läßt sich von ihm einfangen, daß die Federn fliegen.

CHARLOTTE: Solche Vorstellungen sind ganz schön pervers. Aber eigentlich hat sie doch jeder in der einen oder anderen Weise, oder?

HECTOR: Perversionen werden auch oftmals erst in der Rede über solche Dinge erzeugt. Wenn eine Frau zum Beispiel sagt: "Also der hat mich wieder genagelt!"

GABRIEL: Du meinst, daß Frauen wirklich so reden?

HECTOR: Ja, es gibt Frauen, die differenzieren sogar sehr genau, wie sie genagelt werden. Da gibt es Preßluftbohrer bis zu vierzig Zentimeter, die einem Stier gleichkommen, und es gibt eben kleinere Bearbeitungsgeräte...

REBECCA: So 'ne Art Tacker?

JAN: Ich bin heute Nacht getackert worden.

ARTHUR: Tack tack.

HECTOR: Ich will nur sagen, daß man sich eine bestimmte Metaphorik zurechtlegt, um die Lust zu erzeugen...

REBECCA: Und die findet man im Werkzeugkasten.

LUCIA: Darauf würde ich mich jetzt nicht festnageln lassen.