Home
Download
Zufallsgenerator
Textproben
|
Kapitel 4 Phantasien Laß mich dein Archäopterix sein
HECTOR: Neulich saßen wir zusammen auf einer
steilen Felsenklippe. Tief unten schäumten die
Wellen des Meeres gegen die zerklüfteten Felsen.
Wir saßen nicht nebeneinander, sondern
hintereinander. Plötzlich stellte ich mir vor, daß
sie mir von hinten einen Stoß verpaßt. Ich sah
mich stürzen, rauschhaft in die Tiefe des Wassers
hinunter, ohne Halt. Mein letzter Gedanke: das
Nichts. Ich steigerte mich so sehr in diese
Phantasie hinein, daß ich schließlich fürchtete,
sie könnte es jeden Augenblick tun. Ein paar Tage
später erzählte sie mir, daß sie eben diese
Phantasie tatsächlich gehabt hatte.
ARTHUR: Du glaubst doch nicht, daß deine Freundin
Mordphantasien hat?
GABRIEL: Nicht unbedingt eine Mordphantasie. Sie
will nur wissen, ob er sterblich ist.
REBECCA: Solche Phantasien sind mir nicht fremd.
Aus einer früheren Beziehung kenne ich die andere
Seite. Wir arbeiteten zusammen in unserem
Gemüsegarten, ich lockerte den Boden mit einer
dreizackigen Hacke auf, und plötzlich überkam mich
die Vorstellung, ihm damit den Kopf einzuschlagen.
Dieser Gedanke wurde so überwältigend, daß ich die
Hacke ganz schnell aus der Hand legte. Damit ist
unsere Kleingartenidylle auf den Punkt gebracht.
GABRIEL: Das Reich der Phantasie kennt keine
Grenzen. Das geht sogar bis zur Vorstellung der
Auslöschung des anderen. Der Mörder ist immer die
Gärtnerin.
CHARLOTTE: Ich kenne auch den Gedanken der
Auslöschung, aber in der Form der
Selbstauslöschung. Deswegen hat mich der Film Der
Mann der Friseuse fasziniert. Ich habe mich mit
der weiblichen Hauptdarstellerin identifiziert.
Auf dem Höhepunkt der Liebe zu ihrem Mann begeht
sie Selbstmord.
AARON: Das ist ein sehr romantisches Motiv. Zu
Romantik und Tod fällt mir ein Gedicht von
Baudelaire ein, das ich unzählige Male gelesen
habe. Es enthält all das, was ich unter dem
Stichwort Phantasie verstehe:
LUCIA: Gleichwohl erregt es auch meine Phantasie.
Es schlägt dich wie ein Blitz aus heiterem Himmel,
wenn plötzlich ein schöner dunkler Mann vor dir
steht und du dir ausmalst, mit ihm ein Wochenende
im Hotel zu verbringen, 48 Stunden lang nur mit
ihm im Bett zu liegen, ohne ihn kennenlernen zu
wollen. Er ist der Unbekannte, und soll es auch
bleiben. Ich weiß nicht, woher er kommt, was er
macht, das zählt alles nicht. Es geht nur um das
Ausleben der sexuellen Leidenschaft. Mein Kopf ist
in diesem Moment vielleicht ganz dumpf, er ist
ausgeschaltet, nur das, was darunter ist,
vibriert, und mein Körper zerreißt vor Spannung.
CHARLOTTE: Ich könnte mir das so nicht vorstellen.
Mit einem Mann, den ich überhaupt nicht kenne.
Unmöglich!
ARTHUR: Ich kenne das schon. Am meisten
interessieren mich diese Black Boxes in Amerika,
dunkle Räume, in die du hineingehst und in die
andere hineingehen. AIDS hat diese schöne Idee
leider zunichte gemacht.
GABRIEL: Mit wildfremden Personen stellt ihr euch
das vor?
ARTHUR: Es gibt natürlich Spielregeln. Man darf
zum Beispiel keine persönlichen Fragen stellen.
SALOME: Lucia hat eine starke männliche
Komponente. Die Phantasie, Grenzen im dunklen Raum
zu sprengen, kenne ich eher von Männern. Sie
fühlen sich im unpersönlichen Dunkel des Instinkts
beruhigt, von der Last ihrer festgelegten
Identität befreit. In der Anonymität halten sie
sich in einem undifferenzierten Leben und in der
Erinnerung ihrer gesichtslosen Vergangenheit auf,
als sie noch eins mit ihrer Mutter waren.
CHARLOTTE: Das blitzartige Auftauchen eines
Fremden reicht nicht. Ich stelle mir vor, jemanden
kennenzulernen und mit ihm eine Freundschaft zu
schließen. Plötzlich verliebe ich mich in ihn,
aber dieses Gefühl wird niemals Realität. So wie
in Casablanca. Beide wissen, daß sie sich lieben
und dennoch niemals zusammenkommen werden. Die
Liebe wird bewahrt, weil der Alltag sie nicht
beschmutzt.
JUDITH: Dabei hat Liebe viel mit Alltag zu tun.
Dann gäbe es für dich Liebe ausschließlich in der
Phantasie, und dort unten, in der Beziehung mit
dem Partner, wäre der graue Alltag.
CHARLOTTE: Das darf man nicht miteinander
vergleichen. Phantasien sind mein ganz eigenes,
sie sind notwendig zur Entfaltung meiner
Persönlichkeit. Die Liebe zu meinem Partner steht
über ihnen. Sie besitzt einen unantastbaren Wert.
JUDITH: Wenn ich mir in Gedanken den Alltag
ausmale, mir vorstelle, nicht mehr nur mit meinem
Freund allein zu sein, sondern noch jemanden zu
haben, so einen kleinen Matz, der ständig nur nach
Essen schreit und in die Hose pinkelt... Neulich
habe ich geträumt, meinem Freund ein Kind zu
machen.
REBECCA: Diese Phantasien habe ich dauernd. Ich
will ihn schwanger machen, und wenn ich ihm das
erzähle, wird er ganz bleich im Gesicht und fragt
ratlos, wie ich das denn meine, woraufhin ich ihn
nur vielsagend anlächele.
ARTHUR: Das ist nicht fair. Jetzt interessiert
mich aber auch, was du damit meinst. Stellst du
dir vor, daß ihr die Rollen tauschen könntet, daß
du plötzlich der Mann bist? Aber wie machst du das
dann im Bett beim Sex? Da finden doch deine
Vorstellungen vom Tausch der Geschlechtsidentität
reale Grenzen. Den Penis hat schließlich er und
nicht du.
SALOME: Du mußt das als Metapher verstehen. Die
Geschlechter nähern sich einander an, vermischen
sich, sie werden androgyn. Es ist eine
Inszenierung der Geschlechtsrollen, die sich
untereinander vertauschen können. Rebecca ist im
Trend, das siehst du in sehr vielen Video-Clips
und in der Werbung. Die Schwulen in Italien haben
das immer schon inszeniert. Der griechische
Uranuskult, der noch nach dem Zweiten Weltkrieg in
Neapel von den Transvestiten praktiziert wurde,
imitiert den Akt des Gebärens.
JAN: Das wird mir jetzt zu bunt. Meine Phantasien
sind anderer Art. Wenn ich an die Frau im Gedicht
denke, wie die Art ihres Ganges beschrieben wird,
der Blick auf das Gehen und ihre Beine gelenkt
wird, dann möchte man ihr am liebsten direkt
folgen, die Blicke magisch von diesen langen
Beinen und Strümpfen angezogen. In solchen
Situationen weißt du nicht mehr, was du tust. Du
hast das Gefühl, deine Hände und Beine werden ganz
saumig, es ist ein Kribbeln in all deinen
Gliedern, noch nicht einmal das Gefühl, im
Vollbesitz deiner tierischen Kräfte zu sein,
sondern einfach nur dieses Gezogenwerden. Das
Unausweichliche, der Bodenkontakt, der deine Füße
beim Gehen schwerer und schwerer werden läßt
angesichts des lockenden Schritts. Du siehst durch
deine im Wahn getrübten Augen den glatten Rücken,
die langen, dunkel herunterfallenden Haare. Du
wartest darauf, daß sie sich im nächsten
Augenblick zu dir umdreht, um das Erkennungssignal
zu geben und hast gleichzeitig panische Angst
davor. Lieber ihr weiter folgen, nicht, noch nicht
die Entscheidung suchen, bis sie in einem der
vielen Türeingänge der Straße verschwindet.
HECTOR: Was fasziniert dich an Beinen? Sind das
auch die Strümpfe und die Schuhe mit den spitzen
Absätzen?
JAN: Nicht nur Strümpfe, sondern insgesamt Dessous
erregen meine Phantasie. Ob sie nun schwarz und
sportlich sind oder elegante Spitzenbustiers.
JUDITH: Das ist wieder eine typische
Männerphantasie. Ich würde nie Dessous für einen
Mann tragen. Wenn einer das von mir wollte, würde
ich ihn davonjagen. Ich hatte glücklicherweise
immer Freunde, die darauf keinen Wert gelegt
haben.
SALOME: Man kann sich natürlich für sich selbst
anziehen. Das ist dann eine Form der Autoerotik.
HECTOR: Worüber man nicht reden will, darüber
sollte man auch schweigen. So heißt es doch schon
bei Wittgenstein.
LUCIA: In unserer Beziehung war das Thema Dessous
stets virulent. Ich fand das völlig albern. Eines
Morgens haben wir dann doch beschlossen, daß ich
mir welche kaufe. Ich ziehe sie also abends an, er
kommt zur Schlafzimmertür herein, sieht mich in
voller Montur und lacht schallend los. Schließlich
hatten wir beide einen Lachkrampf, und danach war
das Thema Dessous vom Tisch. Beim Fremdgehen
hingegen ist das noch Gegenstand der Phantasie
HECTOR: Sich Frauen in Dessous vorzustellen, hat
etwas mit Lustgewinn zu tun. Dessous bedecken, was
sie im Grunde um so mehr hervorheben. Gerade
Spitzenwäsche, die sich an den Körper schmiegt,
offenbart in der Verhüllung das Geheimnis der
Frau. Es ist ein Changieren zwischen der Begierde,
auch noch die letzte Hülle vom Leib zu reißen, und
dem Wunsch, durch die Berührung des Dessous den
weiblichen Körper zwar zu spüren und dennoch in
der Unsichtbarkeit zu lassen.
ARTHUR: Strümpfe und Strumpfhalter haben noch eine
andere Bedeutung: Sie unterstreichen die Länge der
Beine. Angefangen von den hohen Absätzen der
Schuhe bilden sie eine Gerade bis hoch hinauf zum
Slip. Darin liegt die Vorstellung des schmalen,
langen Stiels, die Hauptquelle aller Lust.
REBECCA: Das ist Eis am Stiel.
LUCIA: Wie ist das mit den Frauenphantasien? Wenn
Männer auf Dessous abfahren, worauf fahren Frauen
ab? Was sind die Äquivalente?
JUDITH: Kleidung ist es jedenfalls nicht. Es ist
der nackte Körper.
LUCIA: Für mich auch. Der nackte Körper mit
unterschiedlichen Attributen. Es gibt ja
verschiedene Arten von nackten Körpern.
SALOME: Ja, ja, das ist eben das umgekehrte
Klischee: Der richtige Mann nackt und die Frau in
Reizwäsche. Ich bin da sehr zwiespältig. Die
Designer von Männerunterwäsche achten auf
Sexappeal, doch leider verwenden die meisten
Männer wenig Zeit und Sorgfalt auf ihr Äußeres.
Einige Bodysuite sind doch ausgesprochen erotisch.
Und lange Unterhosen hat sogar James Dean
getragen. Die Dessous machen den Mann unantastbar.
Trotzdem trage ich keine Reizwäsche. Mieder,
Strapse... Solche Accessoires verbinde ich nach
wie vor mit Unterwürfigkeit und Selbstzucht.
REBECCA: Mir hat das immer widerstrebt, Reizwäsche
anzuziehen. Ich würde mich dann so ausgestellt
fühlen. Und dabei wollte ich nie gesehen werden.
Bei Männern achte ich überhaupt nicht darauf. Ich
könnte keine Unterwäsche beschreiben.
ARTHUR: Dann ist dir etwas Wesentliches am Mann
entgangen. Wahrscheinlich achtest du mehr darauf,
wie ein Mann dir allein mit Worten den Himmel auf
Erden bereitet.
REBECCA: Ja, das hat sicher etwas mit meiner
Geschichte zu tun. Bestimmte körperliche Regungen
und Geräusche kann ich bei einem Mann nicht
ertragen, wenn er zum Beispiel beim Essen schnauft
und schlürft oder wenn er schnarcht und gluckst.
Da könnte ich ausrasten. Diese Überempfindlichkeit
und Vergewaltigungsphantasien – ich meine das
Vergewaltigtwerden – hängen zusammen... Aber was
du sagst, stimmt schon. Die Phantasie in die
richtigen Worte zu kleiden, die nicht so abstrakt
sind, also Bilder zu finden für die Liebe, das ist
mir wichtig.
AARON: Das mit den Geräuschen verstehe ich, aber
welche Bilder meinst du? Ich finde, es ist
schwerer geworden, Bilder zu finden. Entweder
beziehen sich die Phantasien auf Sexuelles, und
dann hat man nur ein bestimmtes Repertoire zur
Verfügung, oder die Bilder, die man benutzen
möchte, sind bereits abgegriffene Muster, die zu
Klischees erstarrt sind. Es ist wirklich schwer,
über all das zu reden. Und wenn man es tut,
besteht die Gefahr, das eigene Geheimnis zu
zerreden. Nichts bleibt dann von der Aura, von der
Poesie, die einem sich in Bildern aufdrängt.
Manchmal stelle ich mir vor, gar nicht reden zu
müssen, sondern einfach den Austausch der Blicke
zu genießen. Oder auch den Genuß durch Essen und
Trinken zu intensivieren.
HECTOR: Essen und das Trinken gehören unbedingt
dazu.
GABRIEL: Du meinst zur Erotik?
HECTOR: Ja, zu den erotischen Phantasien. Man kann
sich doch vorstellen, daß sich über Naturalien
Assoziationsketten bilden, die sich nicht mehr
eindeutig einem bestimmten Bedeutungsfeld zuordnen
lassen.
GABRIEL: Und was hat das mit Sexualität zu tun?
HECTOR: Stell' dir vor, du hast Lust oder Vorlust.
Du willst kurz vorher noch etwas essen, greifst in
der Küche deiner Freundin in den Backofen hinein
und stehst plötzlich vor einem verschimmelten
Etwas, was früher einmal ein Brot war. Du schmeißt
es weg, regst dich fürchterlich – künstlich –
darüber auf und machst deiner Freundin Vorwürfe,
daß sie ständig dieses verschimmelte Zeug bei sich
herumliegen läßt. Aber danach, was ist dann? Du
hast deine Vorlust ja nicht gezügelt. Und
vielleicht ist genau dieses verschimmelte Etwas
plötzlich der zündende Funken, um alles in Gang zu
setzen, um das Weitere assoziativ zu verfolgen. Du
hast den Geruch in der Nase, – oder du erzeugst
ihn zumindest in deiner Phantasie –, hast eine
bestimmte Gewebestruktur vor den Augen und dann
den Körper vor dir. Wunderbar! Da fängst du doch
an zu grunzen, zu bellen. Du machst den Wahnsinn
mit.
ARTHUR: Wie stellst du dir denn den Körper einer
Frau vor?
HECTOR: Es gibt da noch die andere Metaphernkette.
Graf Tilli, der Kater von nebenan, sitzt am
Fenster. Er will herein. Ich weiß genau, was er
will: Milch! Dann kommt er hereingesprungen, ganz
geil, meine Freundin spurt natürlich sofort, holt
ein Tellerchen heraus, gießt Milch darauf,
frische, flüssige Milch...
ARTHUR: Warum betonst du das so?
HECTOR: ...stellt sie auf den Boden. Die Katze
leckt fünfmal daran, ist begeistert und springt
wieder aus dem Fenster heraus. Und was passiert
indessen? Die Milch steht wochenlang auf dem
Boden, und sie gerinnt langsam, wird fest. Welche
Assoziationen einem da kommen können in bezug auf
Sexualität, ist doch unvorstellbar.
REBECCA: Hast du Angst, daß du irgendwo gerinnst?
ARTHUR: Wenn man dich stehen läßt?
AARON: Du meinst, wenn man dich fünf Wochen stehen
läßt, gerinnst du?
HECTOR: Habt ihr noch nie solche Assoziationen
gehabt?
ARTHUR: Das waren ja zwei Assoziationen, einmal
Schimmel und Sex und einmal Verwesung und Sex.
HECTOR: Nein, Gerinnung und Sex.
ARTHUR: Der Inbegriff des Höchsten wäre also eine
Frau gebettet in Schleim und Schimmel.
HECTOR: Ist denn nicht der Mann derjenige – ich
stelle einmal Spekulationen an –, der die
Flüssigkeit in Gang halten will, der Angst vor
Gerinnung hat, vor dem Festwerden? Ich habe diese
Vorstellung schon einmal gehabt.
LUCIA: Statt dessen gerinnt der Samen in der Frau.
GABRIEL: Aber sie kann ihn sammeln und zu
Hybridkindern zusammenphantasieren, während der
Mann seinen Samen ausstreut, ihn sozusagen
verschleudert und immer wieder neuen produziert.
Eine Tonne Samen in dreißig Jahren täglicher
Männerfron.
ARTHUR: Da gibt es nichts zu bewahren, höchstens
im Kopf, in der intellektuellen Verarbeitung der
eigenen Geschichte, nicht aber im Unterleib.
HECTOR: Männer können das vielleicht nur, wenn sie
ihre Lebensgeschichte als Liebesgeschichte
konstruieren. Da geht wohl viel von dem direkten
körperlichen Empfinden, das die Frauen mit ihrer
Vorstellung verbinden, verloren. Der Mann ist dann
der Geist, der aus seiner Geschichte Kunst macht,
und die Frau ist die Poesie.
AARON: Hat er das nicht schön gesagt?
ARTHUR: Ich möchte mich jetzt nicht auf eine
solche kunstphilosophische Diskussion einlassen.
Das ist doch ein wenig schematisch dahergesagt.
Wir sollten lieber unsere eigenen Phantasien zu
Wort kommen lassen, als über die Art und Weise zu
reden, wie Männer und Frauen ihre Bettgeschichten
verarbeiten. Das klappt mit der Philosophie eh
nicht.
REBECCA: Aber ist die Phantasie, die eigene
geistig oder körperlich bewahrte
'Liebes'-Geschichte in seine Nachkommmen
hineinzulegen, nicht eine
Wahlverwandschaften-Phantasie? In Goethes Roman
ist es ja auch so, daß die Gedanken an den
Geliebten während des Beischlafes mit dem anderen
das Kind nach dem Bilde des abwesenden Geliebten
formt.
CHARLOTTE: Ja, die Wahlverwandschaften. Genau das
wollte ich am Anfang mit Casablanca sagen. Die,
die sich wirklich lieben, wissen, daß sie niemals
zusammenkommen werden. Trotzdem bewahren sie ihre
Liebe vielleicht in etwas anderem. Das ist ein
wunderbarer Gedanke. Allerdings kann ich jetzt
nicht sagen, was das andere für mich wäre.
LUCIA: Das könnte auch ein Dritter in einer
Dreiecksbeziehung sein. Es reicht auch, wenn du
dir in deiner Phantasie einen Mann vorstellst, der
all das, was du in deinem eigenen Partner nicht
findest, verkörpert. Er ist dann natürlich nur
deine Projektion, dein alter ego. Und doch hat er
in deiner eigentlichen Beziehung mit deinem Freund
eine manchmal unheimliche Realität. Er taucht in
deinen Träumen auf, geht mit dir durchs Haus,
steht plötzlich neben dir in der Küche und schaut
dir über die Schultern in den Kochtopf hinein.
Sagt aber nichts, schweigt und schaut dich nur an.
Schaut dich und den anderen an. Und seine Blicke
sind wie Reflektoren deiner eigenen gespaltenen
Seele. In seinen Augen erblickst du dich selbst.
Dann fängst du an, nach dem Gespenst in dir selbst
zu suchen. Du suchst in allen Winkeln deiner
Wohnung, deiner Aufzeichnungen und Tagebücher. Du
durchsuchst die Schubladen deiner Seele, gerätst
in Aufruhr und Panik, bist nicht mehr du selbst.
Aber plötzlich hörst du deinen Namen aus dem
Nebenzimmer rufen, und du weißt, daß du zu ihm
gehörst. Er ist dein Mann, er reißt das Gespenst
heraus.
GABRIEL: Ich weiß gar nicht mehr, wo wir uns nun
befinden. Von wo waren wir ausgegangen? Das waren
Hectors Gerinnungsphantasien und jetzt sind wir
plötzlich bei den Phantasien zu dritt. Ich
verstehe zwar den Sprung nicht, aber das Thema
finde ich ergiebig. Gibt es weitere Phantasien zu
dritt?
JUDITH: Eigentlich wäre es einmal an den Männern,
etwas dazu zu sagen, denn die klassische
Vorstellung ist doch die, daß ein Mann eher mit
zwei Frauen im Bett liegt und nicht zwei Männer
mit einer Frau.
AARON: Zumindest wird einem das ständig zum
Beispiel durch Filme suggeriert. Aber ich finde
die Vorstellung generell ziemlich schwierig, denn
entweder wird der eine Mann oder die eine Frau
bedrängt. Das muß doch zu einer heillosen
Verwirrung führen, wer was bei wem zuerst macht.
Außerdem ist das kein bißchen romantisch. Die
Vorstellung, mit zwei Frauen im Bett zu liegen,
würde mich an meine Grenzen bringen.
REBECCA: Man muß ja nicht unbedingt zu dritt im
Bett liegen und sich gegenseitig erregen. Es gibt
diesbezüglich auch Phantasien ganz anderer Art,
zum Beispiel dich selbst durch die Herstellung
eines Dreierverhältnisses zum Verschwinden zu
bringen. Du betreibst damit deine eigene
Auslöschung, indem du dich durch eine andere Frau
an der Seite des Mannes ersetzen läßt. Du läßt
dich von ihr bis auf den Atem ersetzen. Marguerite
Duras schreibt das in der Verzückung des Lol V.
Stein: "In dem Maße, wie der Körper der Frau dem
Manne sichtbar wird, schwindet der ihre dahin,
schwindet, welche Wollust, aus der Welt." Danach
heißt es: "Dieses sehr verzögerte Ausziehen des
Kleides von Anne-Marie Stretter, dieses sanfte
Auslöschen ihrer eigenen Person, nie ist es Lol
gelungen, es zu Ende zu führen." Sie schafft es
nicht ganz, sich zum Verschwinden zu bringen. Aber
sie hat eine nicht zu bändigende Sehnsucht, sich
durch die andere, die sich vor ihm auszieht,
auszulöschen. Und darin entfacht sich eine
ungeheure Wollust.
GABRIEL: Mich gruselt das. Da sind doch ungeheure
Omnipotenzphantasien im Spiel. Da ist eine Frau,
die aus unbekannten Gründen nicht mit dem Mann
zusammen sein kann, den sie liebt, die aber auch
nicht von ihm loskommt. Und diese Frau phantasiert
dann eine andere zwischen sich und ihn, die all
das macht, was sie nicht kann. Das hört sich sehr
nach Stellvertretersex an.
ARTHUR: Und es hat etwas sehr Voyeuristisches. Ich
frage mich nur, wie man sich auf diese Weise
auslöschen kann. Der Gedanke der Auslöschung ist
mir zwar nicht fremd, aber ich stelle mir sie
nicht so vermittelt vor. Eher hat das für mich
etwas mit absoluter Unmittelbarkeit zu tun. Die
Auslöschung, und eben auch die eigene, erfolgt mit
einem Schlag. Du fällst sie oder dich selbst, wie
du einen Baum fällen würdest mit dem letzten
entscheidenden Schlag deines Beiles. Das hat auch
etwas mit der Sexualität zu tun. Die beiden Leiber
gehen aufeinander zu und rammen unter Getöse
aneinander wie der Bug zweier Schiffe unter
Wasser. Es ist ein dumpfes Geräusch, das dir dein
eigenes Ende blitzartig vor Augen führt. Da ist
dann kein Raum mehr für irgendwelche
idealistischen Verschmelzungsphantasien. Da siehst
du nur noch schwarz vor Augen.
JAN: Dieses Geräusch kenne ich auch.
REBECCA: Das hört sich ganz schön gewalttätig an.
Aber das habe ich mit dem, was ich soeben gesagt
habe, natürlich nicht gemeint.
HECTOR: Beide Phantasien, sowohl die von dir als
auch von Arthur, haben etwas Gewalttätiges.
SALOME: Arthur lebt die Verschmelzungsphantasie in
der körperlichen Intimität. Jede Frau wird
zugeben, daß die größte Mystikerin, Theresa von
Avila, den höchsten Grad von Lust in der
sinnlichen Liebe wunderbar beschrieben hat.
GABRIEL: Die Männer sind karger, wenn sie ihre
mystischen Zustände beschreiben. Es trifft aber
zu: Im Augenblick des Orgasmus besteht eine
Konfluenz, ein Einssein zwischen Mann und Frau,
Individuum und Welt hören auf zu existieren.
GABRIEL: Ja, doch in der Jugendzeit reichte mir
dieser 'kleine Tod' nicht. Mein Wunsch nach
Symbiose ging bis zur Todessehnsucht. Ich stellte
mir vor, unser Zimmer als Gruft aus rotem Samt
auszubauen, um die Außenwelt von uns abzuschirmen.
In unserem Kleiderschrank hatte ich
Infusionsflaschen versteckt, für den Fall, daß sie
erkranken könnte. Wir waren beide darauf
eingestellt, irgendwann zusammen Selbstmord zu
begehen. Aber nicht nur aus meiner Angst heraus,
sie zu verlieren, sondern weil der Gedanke, daß
der Tod uns voneinander trennen könnte,
unerträglich war. Die Verewigung unserer Liebe
ließe sich am besten in der Phantasie der im Tode
vereinigten Geliebten verdeutlichen.
JAN: "Wenn der Mann und die Frau zu einem einzigen
Fleisch vor dem Herrn werden..."
JAN: Das muß ja der Horror gewesen sein. In dieser
Form habe ich noch nie irgendwelche Todeswünsche
gehabt, wohl Gewaltphantasien. Ich meine damit
nicht die Sado-Maso-Phantasien, von denen man
momentan so viel hört und sieht, zum Beispiel
diese Domina-Schuppen, in denen die Männer sich
gegen Barzahlung peitschen oder den Hintern
versohlen lassen. Nein, es sind eher reine
Macho-Phantasien, wenn ich daran denke, sie
einfach mal 'so richtig zu nehmen'.
SALOME: Das sind Bräuche aus der Steinzeit. Man
nahm und hielt gefangen, was man an sich binden
wollte.
HECTOR: Der tierische Instinkt ruft. Wir brauchen
nur an die Pferde auf der Wiese dabei zu denken,
wie der Hengst von hinten auf die Stute geht.
ARTHUR: Ja, oder daß man Stutenurin trinkt, um
sich zu verjüngen und leistungsfähiger zu sein,
wie es bei Hans Henny Jahnn zu lesen ist.
REBECCA: Den Anblick der Erektion beim Pferd fand
ich als junges Mädchen erschreckend, Hector. Für
mich gab's dafür noch kein Wort. Oder besser: Ich
hatte es zwar vorher schon gehört, es jedoch nie
in den Mund genommen.
GABRIEL: Und schon sind wir bei den zoophilischen
Phantasien! Dürfen es auch Hunde, Katzen, Hühner
und Hausschweine sein?
AARON: Wer weiß, vielleicht spielt Rebecca ihrem
Freund das Huhn und läuft gackernd durch die
Wohnung, läßt sich von ihm einfangen, daß die
Federn fliegen.
CHARLOTTE: Solche Vorstellungen sind ganz schön
pervers. Aber eigentlich hat sie doch jeder in der
einen oder anderen Weise, oder?
HECTOR: Perversionen werden auch oftmals erst in
der Rede über solche Dinge erzeugt. Wenn eine Frau
zum Beispiel sagt: "Also der hat mich wieder
genagelt!"
GABRIEL: Du meinst, daß Frauen wirklich so reden?
HECTOR: Ja, es gibt Frauen, die differenzieren
sogar sehr genau, wie sie genagelt werden. Da gibt
es Preßluftbohrer bis zu vierzig Zentimeter, die
einem Stier gleichkommen, und es gibt eben
kleinere Bearbeitungsgeräte...
JAN: Ich bin heute Nacht getackert worden.
HECTOR: Ich will nur sagen, daß man sich eine
bestimmte Metaphorik zurechtlegt, um die Lust zu
erzeugen...
REBECCA: Und die findet man im Werkzeugkasten.
LUCIA: Darauf würde ich mich jetzt nicht
festnageln lassen.
|
|