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7. Dreiecke
8. Krise
9. Trennung
10. Verliebtheit

Autoren
Aaron
Arthur
Charlotte
Gabriel
Hector
Jan
Judith
Lucia
Rebecca
Salome



Kapitel 10

Verliebtheit

Der süße Wahn

GABRIEL: Wer akut verliebt ist, ist fähig, alle bisherigen Beziehungen zu sprengen. Rücksichtslosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber den Zurückgelassenen – Partner, Familie, Freunde – sind mitunter erstaunlich. Verliebte gelten als unberechenbar und verrückt. Woher stammt die Kraft der Verliebtheit, warum wird in einem Leben eine Zäsur gesetzt, woher die Schlaflosigkeit und die Appetitlosigkeit? Aus welchen Quellen speist sich der Wahn?

HECTOR: Ich weiß gar nicht, ob ich das als Wahn bezeichnen würde. Das ist doch ein Phänomen der Pubertät. Je älter man wird, desto seltener wird all das Absurde und Verzehrende.

CHARLOTTE: Die Vorstellung, daß sich dieses Gefühl abnutzen könnte, ist beängstigend. Ich bin sicher, daß ich mich auch in zwanzig Jahren noch rasend verlieben kann.

HECTOR: Du kannst nicht davon ausgehen, daß das fünfte Verliebtsein die gleichen Gefühle erzeugt wie das erste. Der fünften Liebe können vier schwere Enttäuschungen vorangegangen sein. Wer bleibt davon unbeeindruckt? Liebe entsteht nicht im geschichtslosen Raum. Eine erste überwältigende Liebe ist nicht wiederholbar.

GABRIEL: Wir wollten nicht über Einmaligkeiten oder Häufigkeiten von Gefühlen sprechen, sondern über das Unvorhersehbare, das Launenhafte und das Flatterhafte, das die Verliebten umtreibt. Woher also die Nähe zur Psychopathologie?

HECTOR: Ich will die Frage so nicht gestellt wissen. Für mich war die Liebe stets das radikal Uneindeutige. Liebe ist alles und nichts. Jeder Versuch, Liebe auf irgendein Konzept festzulegen, geht doch vollkommen daneben. Meiner Meinung nach bringst du veraltete Vorstellungen ins Spiel.

ARTHUR: Verliebtsein antizipiert die unmittelbare Lust, und Erregung mindert die Zurechnungsfähigkeit.

HECTOR: Nein, warte! Was Gabriel beschreiben will, löst doch immer nur Enttäuschung aus. Wenn Emotionen so stark sind, daß der Sinn für die Realität verloren geht, entstehen krasse Fehleinschätzungen in bezug auf die gemeinsamen Erwartungen. Dann haben wir zwei Menschen vor uns, deren Intentionen in völlig unterschiedliche Richtungen zielen. Das endet fatal.

SALOME: Trotzdem verlernst du die Fähigkeit nicht, dich zu verlieben. Allenfalls werden Schutzwände aufgebaut, die das Gefühl der Verliebtheit abwehren.

HECTOR: Ich kann das jedenfalls nicht nachvollziehen, weil ich gerade im Anfangsstadium der Liebe oftmals schon die ganze Enttäuschung gespürt habe, die sich in den ersten Begegnungen einschlich. Man könnte sogar sagen, daß die Phase der Verliebtheit bereits ein Gewebe mit Rissen war, das sich zunächst poetisch über uns legte und doch im nächsten Moment das Prosaische einer offenen Verletzung darbot. Du weißt nicht, ob die Wunden zu heilen sind. Und dennoch: Vielleicht atmet die Liebe nur durch die Risse in der Seele und in dem Körper der Liebenden.

LUCIA: Um bei Arthur anzuknüpfen: Ich finde auch, daß Sex am Anfang wichtig ist. Es beginnt doch schon mit dem Geruch, der einen verrückt machen kann. Ich habe mir bei Jan sofort vorgestellt, wie seine Haut wohl aus der Nähe riechen würde. Aus zwanzig Metern Entfernung roch sie jedenfalls ziemlich gut.

ARTHUR: Beginnt das Gefühl nicht, wenn das "Ich bin verrückt nach der Haut, die ich da vor mir sehe" in das definitiv Sexuelle umschlägt? Beginnt die Verliebtheit nicht mit der physischen Erektion?

CHARLOTTE: Bei mir jedenfalls nicht. Wenn ich mich verliebe, spielen sexuelle Phantasien zunächst keine Rolle. Ich denke an leidenschaftliche Umarmungen und zärtliche Küsse. Ein nackter Körper liegt außerhalb meines Vorstellungsvermögens.

ARTHUR: Siehst du, das ist bei mir ganz anders. Vom ersten Tag an kann ich mir den Körper sehr genau vorstellen...

HECTOR: Ich gebe Charlotte recht. Eine Begegnung ist wie ein exzellentes Mahl. Der Reiz besteht darin, Reihenfolge und Zeiten der einzelnen Gänge einzuhalten. Wie war das, Salome? Ne pas mettre la charrue devant les b ufs? Spannt den Pflug nicht vor die Ochsen. Alles zu seiner Zeit.

ARTHUR: Ihr seid denaturiert! Warum gegen die Regungen des Fleisches angehen, warum den sanguinischen Appetit zügeln, wenn man Lust auf Sex hat? In euren schöngeistigen Gourmet-Begriffen bleibt das Berserkerhaft-Leidenschaftliche völlig ausgespart.

JUDITH: Was meinst du mit berserkerhaft?

ARTHUR: Eine unmittelbare, ungebremste, fleischliche Lust und irrsinnige Erregtheit, die sich nicht um irgendwelche sublimierte Formen schert, sondern einfach drauflosspringt. Die heftigen Aufwallungen haben ihren Impuls in der animalischen Natur des Menschen. Ihnen möchte ich mich hingeben.

GABRIEL: Aus dem animalischen Zustand hat sich der Mensch längst herausentwickelt. Er ist von Natur aus gesellschaftlich, und seine Sexualität ist es auch. Sexualität ist eine gesellschaftliche Kategorie. Der Sex ist wie der Mensch oder das Soziale möglicherweise vergänglich.

ARTHUR: Unsinn! Jedermann hat diesen Rest von Instinkt und Authentizität in sich. Deshalb sind die Momente spannend, in denen es durchschlägt und die Spiele und das Kultivierte beseitigt werden, Momente, in denen etwas aufbricht. Um sich danach wieder aufzufangen und sich zurückzunehmen, erneut spielerisch zu werden. Die Verliebtheit lebt von diesen Perspektiven.

SALOME: Der Sex, den du beschreibst, ist nicht animalisch, er ist unersättlich männlich, eine Art Schaum, eine Entladung der Gefäße.

LUCIA: Das war am Anfang auch bei uns ein wichtiger Punkt der Auseinandersetzung. Für Jan war die Sexualität die Grundlage einer Beziehung, auf der der Rest aufbaute.

JAN: Ich mache keinen Unterschied zwischen Liebe und Sexualität.

SALOME: Das sehe ich anders. "Je mehr Schritte und Stufen es gibt", schreibt Montaigne, "desto größer sind aber die Höhe und die Ehre bei der letzten Stufe." Wenn die Liebe da ist, setzt sie den Körper in Brand.

LUCIA: Eben. Was bleibt schon übrig, wenn nur der tierische Trieb stimmt.

HECTOR: Ich wiederhole: Der Grundakt muß gesichert sein.

AARON: Das mit dem Grundakt verstehe ich nicht. Verliebtheit hat doch eine viel entscheidendere Dimension: das Geheimnis. Sie ist wie eine unterirdische Tropfsteinhöhle, in der du dich traumwandelnd bewegst. Mit Körperlichkeit hat das nichts zu tun.

ARTHUR: Das ist mir zu verklärt.

GABRIEL: Verliebtheit auf Sex zu reduzieren, greift zu kurz. Sex ist zwar gut für schwindelerregende somatische Sensationen, doch er erklärt die Ungeduld, die Weinkrämpfe, die Ohnmachten und die Verausgabung ebensowenig wie die Veränderungen in unserer Wahrnehmung und in unserer Gedankenwelt. Die Bilder des Geliebten beherrschen die letzten Gedanken vor dem Einschlafen und den ersten Gedanken nach dem Aufwachen. Diese Allgegenwart der Bilder wird später nur durch eine sehr starke Eifersucht erreicht. Und durch die Angst vor Krankheit und Tod. Schon aus dem Zusammentreffen dieser sehr unterschiedlichen Ursachen ersehen wir, daß das Verliebtsein an die Substanz geht.

SALOME: Ich bin überzeugt, daß der Verliebte ein neues Leben entwirft, entweder aus dem Nichts der Einsamkeit oder aus der Sackgasse einer erstickenden Beziehung heraus. Eluard hat die Liebe mit Hunger und Durst verglichen. Eines ist sicher: Die Liebe entsteht aus einem Mangel. Wenn ich mir selbst genüge, erfahre und gebe ich keine Liebe. Für mich ist die Liebe die einzig mögliche Strategie, um zu existieren. Ich liebe, also bin ich.

GABRIEL: Wir haben über die Schatten der Vergangenheit gesprochen, die in allen Stadien unserer Liebesbeziehungen über uns kommen. Vergessen haben wir darüber die prägenden Einflüsse aus der von uns imaginierten Zukunft, die ebenso real sind wie das Vergangene. Auch deshalb darf man die Erklärung des Phänomens Liebe auf gar keinen Fall der Psychoanalyse überlassen. Nicht das Gestrige im Unbewußten ist die Dimension der Verliebten, sondern das Vorbewußte, die Dämmerung nach vorwärts. Dort liegt der Geburtsort des Neuen. Dorthin wollen die Verliebten.

HECTOR: Das sind sehr schöne Bloch-Bilder, doch weiß ich nicht, ob sie uns hier weiterhelfen. Wie soll ich eine Beziehung beginnen, wenn ich noch nicht einmal weiß, wer ich bin? Auf welcher Grundlage sollen meine Gefühle denn aufbauen?

GABRIEL: Weiß ich, wer ich bin? Ich bin doch jedes Mal ein anderer, mit jedem Partner ein neuer Spielball der Reize, der Zuschreibungen und Versuchungen und vor allem Spielball dessen, was der Partner von mir glaubt. In der Verliebtheit wird eine Kernfrage des Selbst-seins auf die Spitze getrieben. Im Steppenwolf steht dazu: "Es ist ein, wie es scheint, eingeborenes und völlig zwanghaft wirkendes Bedürfnis aller Menschen, daß jeder sein Ich als eine Einheit sich vorstellt, wo doch kein Ich, auch nicht das Naivste, eine Einheit, sondern eine höchst vielfältige Welt, ein Sternhimmel, ein Chaos von Formen, von Stufen und Zuständen, von Erbschaften und Möglichkeiten ist."

HECTOR: In der Pubertät habe ich auch daran geglaubt. Mittlerweile bin ich der Meinung, daß Hermann Hesse alles und nichts zum Thema Liebe sagt.

JUDITH: Außerdem brauchen wir keine Schriftsteller, um Bilder für die Liebe zu finden.

SALOME: Die Literatur führt zur Liebe; das Imaginäre ist im Augenblick der Verliebtheit entscheidend und der Geist ist der eigentliche Agent der Liebe.

CHARLOTTE: Das Imaginäre entsteht in uns. Wenn ich verliebt bin, fühle ich mich wie vor einer Reise: mit ist übel, ich bin überdreht, kann nicht schlafen und bin zu allem bereit. Der Wille ist da, aufs Ganze zu gehen, neue Terrains zu erforschen.

ARTHUR: Verlieben wäre ein Betreten des neuen Lebens ohne Paß.

CHARLOTTE: Nein, mit Paß. Ich verleugne doch nicht meine Identität.

SALOME: Es ist auf jeden Fall vergleichbar mit einer Reise in ein unbekanntes Land, zu dem unbekannte Kontinent des anderen Geschlechts, an der Grenze zwischen der Selbstliebe und der Liebe zum anderen. Verliebtsein ist Verwirrung, sie ist der Zusammenstoß meiner Ordnung mit einer Ordnung, die mich transzendiert und die ich nicht einschließe. Verliebtheit ist Revolution.

ARTHUR: Wenn das nicht ein romantischer Mythos ist!

SALOME: Zumindest hat er mir die Welt geöffnet und Kraft und Lust gegeben, mich sozial zu engagieren. Die Zeit war natürlich eine andere: Vietnam-Krieg, Frauenbewegung, Revolte. In Kommunen und Wohngemeinschaften erprobten wir Alternativen zur Kleinfamilie. Kurz und gut: Wir wollten unsere kleine, persönliche Revolution in die Welt tragen.

REBECCA: Der Vergleich mit dem fremden Land gefällt mir. Vielleicht, weil ich mich häufig in ausländische Männer verliebt habe. Hier sprengt die Verliebtheit sofort eine ganze Reihe von Konventionen, und es zieht einen heraus aus der eigenen Kultur. Dennoch finde ich den Begriff Revolution problematisch.

SALOME: Verliebtheit als Entwurf kann auch innerhalb der gleichen Kultur eine Subversion sein. Die wahre Liebe stützt sich weder auf eine soziale Finalität, noch auf materielle Interessen. Sie erhält nicht einmal die Hoffnung aufrecht, von der Gesellschaft akzeptiert zu werden. Das ist auch der Grund, warum ich immer die homosexuelle Liebe bewundert habe, denn sie verläßt sich nur auf ihre innere Kraft.

HECTOR: Aber ich kann doch nicht aus meiner bürgerlichen Maske ausbrechen! Das war vielleicht der Fehler der 68er zu glauben, sie könnten die Revolution machen und die Klassenunterschiede beseitigen. Ich will niemandem Vorwürfe machen. Doch ich kann aus meiner Situation heraus nicht einfach so tun, als ob ich nicht aus bürgerlichen Verhältnissen käme. Ich hänge vielleicht an dieser bürgerlichen Vorstellung von Liebe und Zweierbeziehung, und ich muß mich erst einmal radikal darauf zurückbesinnen, daß ich so bin, wie ich bin. Ich muß mit der Faktizität, mit dem Leben, in das ich hineingeboren wurde, umgehen. Das kann ich in der Liebe nur dann tun, wenn die Geliebte darauf eingeht. Die Veränderung stellt sich erst ein, wenn ich weiß, wer ich bin. Ich weiß nicht, ob dafür Revolution das richtige Wort ist.

SALOME: Damit bin ich nicht einverstanden. Mich interessiert nicht meine Faktizität, sondern die Herausforderung im Leben, der Kampf. Ich habe früher sehr in Osmose mit meiner Zeit gelebt. Vielleicht hatte ich auch andere Identifikationsfiguren: Olympe de Gouges, Rosa Luxemburg, Simone Weil. Für mich zählte nur eins: eine Revolution der universellen Liebe.

LUCIA: Verliebtheit als Revolution, als Zäsur der eigenen Lebensgeschichte, sich zu machen, statt zu sein, die Verliebten als Behälter voller Zukunft... alles gut und schön. Und was ist mit denen, die sich nicht auf eine gemeinsame Zukunft festlegen wollen, die ihr Leben selbständig und unabhängig voneinander gestalten?

GABRIEL: Softe Sprüche wie "Weißt du, ich möchte mich eigentlich nicht binden" oder "Es ist besser, wir legen uns nicht fest" hasse ich. Mit einer Ausnahme: Wenn sich beide auf die Unverbindlichkeit einigen. Erhebt aber nur einer der Partner die Unverbindlichkeit zum Prinzip, gibt es zwei Varianten. Im besseren Fall ist es ein Zeichen von Unsicherheit, die aus Angst vor Enttäuschung die erreichbaren Ziele tief ansetzt. Im schlechteren Fall ist es ein mieses Spiel, um den anderen von Beginn an in die schwächere Position hineinzudrängen. Das bedeutet Machtkampf vom ersten Tag an.

REBECCA: Manche Menschen brauchen Widerstände.

GABRIEL: Natürlich, Gefühle wachsen an Hindernissen. Doch die Widerstände sollten von außen kommen. Eltern, die sich gegen die Beziehung sperren oder auch Freunde, die den Partner als Eindringling in die gewohnte Clique empfinden. Gegen die kann man sich solidarisieren. Das schweißt zusammen.

HECTOR: Wobei die Verliebtheit zunächst eine reine Projektion sein kann, ohne daß der erträumte Partner sich mir nähert. Dann bleibt ein Zwischenraum, in den ich bestimmte Inhalte hineinprojiziere. Dies ist ein intensiver körperlicher Zustand. Anders ist es, wenn ich sofort eine reale Beziehung eingehe und damit die Alltagsprobleme hochkommen.

GABRIEL: Also ohne Widerstand keine Liebe?

HECTOR: Ohne Spannung kein Krimi.

REBECCA: Julia und Romeo bringen sich um, um dem Gesetz ihrer Väter zu entgehen, und die Prinzessin von Cl ves zieht sich ins Kloster zurück, weil sie weiß, daß eine Leidenschaft sich von Hindernissen nährt.

SALOME: Heute tötet niemand mehr aus Leidenschaft, sondern es ist die Langeweile, die tödlich wird.

JUDITH: Es gibt daher Menschen, die die Spannung künstlich aufrechterhalten. Sie vermeiden die Gewohnheit und den Alltag und verlieben sich chronisch immer wieder neu.

SALOME: Ich glaube nicht, daß jemand in der Lage ist, dreimal im Jahr rauschhaft seinen Lebensentwurf neu zu formulieren. Ich würde sehr nachdenklich werden, wenn ein Mann mir so etwas sagte. Wer mit Gefühlen inflationär umgeht, kann sie am Ende nicht mehr unterscheiden von dem, was Arthur sagte: Lust, Erregung, Fleischkonsum. Dann gibt es keine Utopie der gemeinsamen Verwirklichungen mehr, sondern es geht nur noch um den Moment.

ARTHUR: Du legst großen Wert auf die Trennung von Gefühl und Sex.

SALOME: Das will ich meinen! Es sind zwei sehr distinkte Kategorien. Mir imponiert der Wahnsinn in der Wahrnehmung des Verliebten, die Permanenz der Gedanken an den anderen, auch der zuweilen unerträgliche Hang zur Poesie. Und diese Fähigkeit zur Selbstaufgabe... Hector sprach in diesem Zusammenhang von seiner Fähigkeit, sich für eine Frau, in die er verliebt ist, völlig zu verausgaben. Die Wahnwelt der Verliebten ist Kultur. Als solche ist sie ein Sprengsatz, den der Verliebte in der Hand hält und mit dem er seine bisherige Welt auseinanderreißt.

GABRIEL: Dein Sprengstoff erinnert mich an einen Leitsatz von vor zwanzig Jahren. Die Universalbegründung allen Handelns war damals, daß die Jugend zum Unterlaufen des Bestehenden bestimmt sei.

JUDITH: Bezogen auf die Verliebtheit gilt daher: Verliebtsein ist ein Jungbrunnen, unabhängig vom Alter.

GABRIEL: Könnt ihr euch in Menschen verlieben, die ihr seit langem kennt?

CHARLOTTE: Undenkbar! Wenn die Vertrautheit zu innig ist, kann das Gefühl gar nicht entstehen. Doch Männer sind da vielleicht anders.

SALOME: Das ist mir auch aufgefallen. Männer könnten noch mit Uraltbekannten ins Bett gehen. Das ist mir völlig unverständlich, obwohl es ein Irrtum wäre zu meinen, die Liebe könne man nur von einem blitzhaften Sich-Verlieben erwarten.

AARON: Die wirklich große Spannung erzeugen nur fremde Menschen. Die ideale Geliebte – weil ideale Projektionsfläche all meiner Wünsche – ist ohne Zweifel die Unbekannte, die unvermittelt Erscheinende, das unbeschriebene Blatt. Die Verliebtheit nährt sich auch von den Fragen: Wer ist die andere, wie ist sie, wo will sie hin, wohin kann ich mit ihr gehen?

GABRIEL: Solange diese Fragen nicht beantwortet sind, stehen erhebliche Hindernisse vor der Wunscherfüllung.

SALOME: Sexualität kann ein solches Hindernis sein, auch ein künstlich errichtetes, nämlich zum Beispiel das Verbot der Sexualität oder Teilgenehmigungen derselben wie: bis hierher und nicht weiter. In meiner Sexualität war ich mit meinem Anspruch, als Jungfrau zu heiraten, natürlich anachronistisch. Doch war mir meine Jungfräulichkeit ein Garant für Integrität und Autonomie, sie hatte mit Religiosität nichts zu tun. Außerdem hatte der Mann, der mich liebte, die Prüfung der Enthaltsamkeit zu bestehen.

LUCIA: Die wirklich geliebte Frau muß unerreichbar bleiben. Bei uns forderte Jan diese Liebesbeweise. Ich bin durch Höllen gegangen, bis ich ihm klar gemacht hatte, daß nur ich die Richtige war. Ich mußte den Minnedienst erbringen und den Mann langsam erobern. Manchmal denke ich, daß solche Rollenverteilungen des Anfangs später nie vollständig in Frage gestellt werden.

HECTOR: Minnedienst und Liebesbeweise empfinde ich als außerordentlich reizvoll. Die Verspieltheit des Verliebtseins trägt zu dem Wunsch bei, dem eigenen Leben ein neues Gewand zu geben.

SALOME: Trotzdem beinhaltet die Liebe immer auch den Willen zur Macht, denn sonst würden wir nicht ständig versuchen, den anderen entweder zu verändern oder gar zu vernichten. Denkt an Kleists Penthesilea. Sie bekämpft ihren Geliebten als Alter Ego bis in den Tod hinein. Der Wunsch zu herrschen fließt hier mit dem Wunsch zu lieben zusammen, und der Wunsch zu lieben wird mit dem Wunsch zu töten und zu zerstückeln gleichgesetzt. "Ich liebe dich, ich töte dich." Diese Liebe verbindet die Liebe nach Macht mit dem dunklen Gefühl der Unvollständigkeit, weil jeder seine Macht aus dem Sein des anderen schöpft.

CHARLOTTE: Die Liebe hat etwas Vampirhaftes. Sie ist unersättlich.

JUDITH: Ein Partner hat die Macht, den anderen durch Worte in seine Gewalt zu bringen und zu beherrschen.

GABRIEL: Das gehört aber schon zu einer späteren Phase der Beziehung. Das Faszinierende in der frühen Zeit des unbeschwerten Verliebens ist doch die Tatsache, 'ich bin' sagen zu dürfen, statt immerzu nur die Interpretationen deiner selbst von den anderen zu hören, die unendlichen Litaneien des 'du bist...'. Keine Frage: das funktioniert mit dem Unbekannten, dem ich mich so präsentieren kann, wie ich mich in der augenblicklichen Lebensphase fühle. Verliebtsein ist ein Fest der Gegenwart. Das kühlende Wasser des Neubeginns spült von uns den klebrigen Schweiß der Vergangenheit. Endlich kann ich mich in einem Menschen so wiederfinden, wie ich mich sehe.

HECTOR: Ob ich meine Vergangenheit am Ort der versiegten Liebe gelassen habe, weiß ich nicht, doch die Kleider sind dort geblieben. Ich mußte aus ihnen ausbrechen und habe sie zurückgelassen.

CHARLOTTE: Ja, man versucht, seine eigene Vergangenheit komplett auszulöschen, alles zu vernichten, was noch mit dem Verflossenen zu tun hat. Briefe und Fotos werden zerrissen; Aktionen, die man später bereuen wird. Man verändert seinen Typ, schneidet die Haare ab oder färbt sie, kauft sich neue Kleider.

SALOME: Auch ich habe mein Leben einmal neu erschaffen. Alles, was mir in der Vergangenheit an Leid zugefügt worden war, verbrannte ich mit den Tagebüchern meiner Jugend und löschte es aus meinem Gedächtnis. Es war, als ob ein Kind seine Mutter verließe, um einem Fremden zu folgen, der ihm die Hand gereicht hatte. Dieser Fremde gab mir die Liebe, die Zärtlichkeit, das Vertrauen und die Kindheit, die die Nonnen im Internat mir geraubt hatten, zurück. Ich wurde neu geboren.

REBECCA: Ist das Verlieben unabdingbar für die Erneuerung des Lebens? Wäre damit nicht auch in jeder Beziehung die Bereitschaft zur Untreue angelegt?

GABRIEL: Kaum eine Biographie, die nicht über Zeiten berichtet, in denen der gegenseitige Treueschwur lax interpretiert wird. Die sporadischen Untreueattacken sind von der systematischen Untreue natürlich streng zu differenzieren.

AARON: Wartet, laßt uns jetzt bei der Gegenwart bleiben. Wir sprechen die ganze Zeit über Revolution von Lebensgeschichten, Neuentwürfe des Kommenden, Häutungen von Vergangenheiten, kurzum vom Umgang mit der eigenen Biographie. Welche Rolle bleibt dem Geliebten? Eigentlich doch nur die Statistenrolle.

REBECCA: Ich hatte in all meinen Beziehungen erfüllte Momente, die relativ losgelöst vom Partner waren. Ich habe sie auch über das Ende der Beziehung hinaus bewahrt. Diese Seinsmomente sind nicht unwichtig für die Liebesgefühle.

GABRIEL: Die in einem langweiligen Leben gefangene Kreatur auf der Suche nach einer Ich-Variante, die gehetzte Selbstverwirklichung als graue Eminenz bei der Inszenierung altruistischen Liebeswahns... Nicht schlecht!

LUCIA: Ja, ja, deshalb sagt Werther auch: "Und wie wert ich mir selbst werde, wie ich mich selbst anbete, seitdem sie mich liebt."

CHARLOTTE: Wie sehr man sich anbetet, bleibt den Umstehenden nicht verborgen. Verliebte haben oft einen unwiderstehlichen Charme, der die Sehnsucht der anderen Menschen auf sich zieht. Nichts macht attraktiver als die Ausstrahlung eines verzehrenden Gefühls. Es ist eine tragische Verschwendung amouröser Ressourcen, daß wir im Zustand des Verliebtseins so wenig empfänglich für all die Angebote sind, die an uns herangetragen werden.

SALOME: Gabriel vergleicht das Verliebtheitsgefühl mit elementaren Erlebnissen wie Angst oder Gewißheit angesichts von Krankheit und Tod. Den Geliebten allgegenwärtig zu fühlen und ihn in jedem Augenblick körperlich zu fühlen... Bedeutet das nicht, sich selbst in jeder Sekunde zu fühlen, das eigene neue Leben zu ahnen und divergierende Zukunften zu planen? Man denkt an den Geliebten und entwirft doch nur sich selbst in fortwährendem Schwung auf eine neue Existenz hin. Der Verliebte ist sich selbst Regisseur, Hauptdarsteller und beifallklatschendes Publikum.

ARTHUR: De facto verliebt man sich nur in sich selbst.

HECTOR: Wollen wir daher zusammenfassen, daß die Verliebtheit ein unerwartetes Objekt hat? Daß, wenngleich unsere Aufmerksamkeit uneingeschränkt dem Geliebten gilt – was wir als 'Gefühl für den anderen' benennen –, die Emotion als Ziel doch nur uns selbst hat? Die Geliebte als conditio sine qua non, ohne die tatsächlich nichts geht, die im Grunde jedoch nur den Spiegel hält, in dem die verliebte Kreatur sich selbst-konstituierend erhellt? Dann ist Liebe ein Eiertanz vor dem Altar des eigenen Ego.

JAN: Klasse! Bald weiß ich nicht mehr, ob ich überhaupt wünschen kann, daß sich irgendwann noch einmal eine Frau in mich verliebt. Im Grunde meint sie dann ja nicht mich, sondern nur sich selbst.

GABRIEL: Am Anfang unserer Verliebtheit stehen nur wir allein im Mittelpunkt des Geschehens. Wer denn sonst? Etwa die Geliebte, die wir nicht kennen und von der wir nicht wissen, was sie fühlt, wie sie denkt und woran sie glaubt? Wo soviel Fassade ist, fällt das Gefühl auf sich selbst zurück, wird der Zuschauer zum Protagonisten. Ich habe nichts dagegen, daß Verliebtheit sich als rauschendes Fest unserer Individualität entpuppt. Die Vorstellung eines rasenden Gefühlssturms, der auf sich selbst zurückfällt, finde ich sogar faszinierend.

SALOME: Das offenbart deine tendenziell onanistische Grundstruktur.

LUCIA: Mir ist der rasende Gefühlssturm in der Phase des Verliebtseins fremd. Mein Gefühl war ein leises, inwendiges Erzittern, als ich ihn zum erstenmal sah, und es war begleitet von dem nicht wahnhaften, sondern ganz klaren, schlichten Wissen, daß er für mein Leben die größte Bedeutung haben würde. Mich verlieben in einen anderen bedeutet für mich ein Wiedererkennen: den wiederfinden, zu dem ich gehöre und der zu mir gehört. Der andere ist dabei radikal wichtig als anderer, nicht als Projektionsfläche meines Egos.

HECTOR: Ist es dann nicht geradezu beleidigend, wenn man herausfindet, daß der Geliebte früher mit jemandem zusammen war, der unmöglich war, entweder charakterlich oder in der Erscheinung?

CHARLOTTE: Ich finde es viel schlimmer, wenn man herausfindet, daß der Partner mit einer Frau zusammen war, die so etwas wie ein Ideal ist. Dann stellst du dir immer wieder die quälende Frage: Bin ich auch so? Muß ich so werden?

ARTHUR: Das narzißtische Spiel, das Gabriel beschreibt, ist ja noch infamer, wenn man bedenkt, daß in der Liebe immer auch eine Idealisierung stattfindet. Derart künstlich überhöht, wirft die Geliebte einen unendlich verzaubernden Schein auf mich zurück.

SALOME: In der Wahnphase der Verliebtheit ist es schwierig, in der eigenen Wahrnehmung deutlich zwischen sich selbst und dem Geliebten zu unterscheiden. Der Geliebte fungiert als Zwilling. Die Metapher wird zur Realität. Und schon sind wir bei der Liebeshysterie. Bei sehr engen Bindungen zwischen Menschen gibt es keinen Zwischenraum mehr. Die beiden Geliebten verschmelzen zu einem einzigen Menschen. Verliebte ähneln den Mystikern und sakralisieren die Sexualität. Die Rückkehr zur Einheit gelingt schon in der Verschmelzung des Kusses.

GABRIEL: Die platonische Idee von dem in zwei Geschlechter gespaltenen Wesen, das sich in der Liebe erneut vereint, das Androgyne, hat die ersten Jahre unserer Geschichte entscheidend bestimmt.

JAN: Unser Leben lang sind wir hin und hergerissen zwischen unserer Sehnsucht nach fusioneller Liebe und unserer Angst davor.

SALOME: Die Idee von der Aufhebung der Trennungen – hier die Trennung der Geschlechter in Frau und Mann – war bei mir auch sehr stark ideologisch geprägt. Im weiteren Sinne stand sie für die Vision einer klassenlosen Gesellschaft. Geschlecht wie Klasse galten als ein Konstrukt, beide gehörten abgeschafft. Wenn wir schließlich fast bei einer folie deux angelangten, so lag das auch an meiner Situation als Ausländerin in Deutschland. Solange ich die Sprache nicht beherrschte, hatte ich keine Beziehung zu anderen und war allein mit einem Mann, der mich mit seinen Besitzansprüchen und seiner Leidenschaft wahnsinnig machte.

CHARLOTTE: Die amouröse Konzeption von Cavalcanti beschreibt genau diese Leidenschaft: Amor manifestiert sich als Krankheit, dringt in den Körper der Liebenden ein und tobt dort solange, bis der Liebende stirbt.

LUCIA: Jan empfand meinen Satz "Wenn du stirbst, bringe ich mich auch um" immer als bedrohlich. Als Antwort bekam ich zu hören, daß ich nicht selbständig genug sei.

SALOME: Wenn bei uns von Selbstmord gesprochen wurde, hatte ich entsetzliche Schuldgefühle. Die 'amour fou' hatte ich mir zwar seit der Kindheit gewünscht, doch plötzlich fühlte ich mich dieser Liebe nicht mehr gewachsen. Natürlich konnte ich sagen: "Ich habe ohne dich keine Lust weiterzuleben", aber ob ich zu einem Selbstmord fähig gewesen wäre, weiß ich nicht. Der Wahnsinn schien mir eine praktikablere Lösung zu sein. Nach sieben Jahren war der Tod ein ganz zentrales Thema in unseren Gesprächen, gehörten Sätze wie "Wenn du stirbst..." oder "Wenn ich sterbe..." fast zum Alltag. Wenn ich fünf Minuten zu spät aus der Uni kam, hatte er Schweißausbrüche und fiel fast in Ohnmacht.

LUCIA: War da nicht ganz einfach die Angst vor dem Verlust und die paradoxe, aber faszinierende Lösung: Bevor alles zerfällt, bringe ich mich um?

AARON: Das Thema 'Zusammenbleiben, bis daß der Tod euch scheidet' kenne ich aus einer früheren symbiotischen Beziehung. Es war ein langwieriger Prozeß, davon loszukommen. In der Symbiose verzichtest du auf dein eigenes Sein, um mit dem anderen zu verschmelzen. Das ist der Tod.

SALOME: Im extremen Fall geht die Symbiose bis zur Vernichtung. Da wird Liebe totalitär.

HECTOR: Das Gerede von Tod und gemeinsamem Selbstmord kann ich nicht ertragen. Für mich stellt sich diese Todessehnsucht als großes Klischee dar. Ich kenne die romantische Liebe auch, habe mich in Tristan und Isolde ergangen, doch war das meistens meine eigene Phantasie, die ich für mich allein hatte und die nicht mit einer Frau gemeinsam entstanden ist. Seitdem ich in Beziehungen lebe, hatte ich diese Todesphantasien nicht mehr.

ARTHUR: Sterben auf dem Höhepunkt der Liebe: da geht es nicht um eine Apologie des Todes, sondern darum, in der Fülle zu bleiben, sie zu bewahren.

HECTOR: Mich gruselt, wenn ich das alles höre. Für mich ist Liebe auch Alltagsbanalität, in der ich mit dem anderen zusammenlebe.

GABRIEL: Die meisten dieser Todesbilder sind natürlich Metaphern. Liebe und Tod sind so eng beieinander angesiedelt, weil jede Trennung ein kleiner Tod ist und jede Trennungsphantasie daher Todesängste auslöst.

JUDITH: Wollt ihr im Ernst mit einem Diskurs über Liebe und Tod enden?

LUCIA: Nein! Es ist möglich, die Liebe vor dem Tod zu bewahren.

SALOME: Die Liebe ist ähnlich wie das Glück kein definitiver Zustand. Sie ist eine Verflechtung von Empfindungen, Gedanken, leidenschaftlichen Augenblicken, eine gewollte Abhängigkeit, eine gegenseitige Anerkennung und die Sicherheit, daß sie noch das kostbarste und zerbrechlichste Gut ist und bleiben wird. Die Verliebtheit mit der alltäglichen Liebe zu verwechseln, wäre ein großer Irrtum, denn ein Liebesverhältnis unterscheidet sich sehr von der Träumerei der ersten Phase. Zu zweit leben heißt sich zu lieben wie man ist, sich zu achten, im Plural zu atmen, zu denken und zu planen. Ja, das ist für mich Liebe: Freiheit für mich zu beanspruchen, obwohl ich im Plural denke.

GABRIEL: Wir sollten nach unserem Gespräch die Lebensentwürfe überprüfen. Sich verlieben als Erneuerung, als Expedition in die Neugeburt, das könnte einem Leben ungeahnte Möglichkeiten erschließen.